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Ein Wunder, seine Kirche und die Folgen

Eine angebliche Marienerscheinung samt Krankenheilung lockt Tausende Pilger ins böhmische Filipov.

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© Jiri Stejskal

Von Steffen Neumann

Die Sorgen von Klára Mágrová werden nicht kleiner. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr ist auch das letzte Hotel rund um die Wallfahrtskirche im tschechischen Filipov (Philippsdorf) geschlossen. Das „Waldstein“ schräg gegenüber der Basilika stellte im Sommer seinen Betrieb ein. Und das ausgerechnet zum nahenden 150-jährigen Jubiläum der Erscheinung der Jungfrau Maria in einer kleinen, mit Strohdach gedeckten Weberhütte.

Dort, wo Maria erschienen ist, steht heute eine Basilika.
Dort, wo Maria erschienen ist, steht heute eine Basilika. © Petr Špánek

„Früher stand hier mal ein Hotel neben dem anderen“, sagt die Mitarbeiterin der katholischen Pfarrei in Rumburk (Rumburg), die sich um die Wallfahrtskirche kümmert. Tatsächlich wirkt der monumentale Kirchenbau heute etwas zu groß geraten. Dass Kirche und Dorf schon andere Zeiten gesehen haben, lässt sich an dem früheren Ehrentitel „böhmisches Lourdes“ ablesen. Der berühmte Wallfahrtsort zählt nach Paris die meisten Touristen in Frankreich und ist mit über 12 000 Hotelbetten ausgestattet. Auch in dem heutigen Filipov ging die Zahl der Pilger einmal in die Zehntausende.

Das war zur Hochzeit des Kultes um die Marienerscheinung, die sich in den Morgenstunden des 13. Januar 1866 am Ort der heutigen Gnadenkapelle der 30-jährigen Magdalena Kade zeigte. Die Tochter armer Weber lag damals sterbenskrank im Bett, als ihr mitten in der Nacht die Jungfrau Maria erschien und sich mit den berühmten Worten „Mein Kind, von jetzt an heilt’s“ an sie wandte. Die Heilung vollzog sich augenblicklich. Binnen weniger Wochen verbreitete sich die Kunde von der Erscheinung und der Gesundung wie ein Lauffeuer und setzte einen Pilgerstrom in Bewegung. Erst waren es Hunderte, die den Ort aufsuchten. Später Tausende. Schon im Mai 1868 wurde die kleine Stube, in der Magdalena Kade einst todkrank lag, geräumt, um als Kapelle zu dienen. Bereits fünf Jahre später wurde eine echte Kapelle, wie sie heute seitlich der Kirche steht, eingeweiht. 1885 folgte die Kirche. Wenn am 13. Januar 2016 der Bischof von Litomìøice (Leitmeritz), Jan Baxant, um vier Uhr morgens das Pontifikalhochamt – eine besondere Heilige Messe – beginnt und die Gläubigen das Philippsdorfer Wallfahrtslied „Heil der Kranken“ singen, werden Klára Mágrovás Sorgen wohl verflogen sein. Sie wird gegen drei Uhr aufstehen, sich auf den kurzen Weg von Rumburk nach Filipov machen, ihr Auto etwa einen Kilometer oberhalb der Kirche abstellen und den Rest laufen. Dann wird sie nicht allein sein. Busse und Autos werden entlang der Straßen parken, weil es für das Großereignis zu wenig Parkplätze gibt. Andere Autos pendeln als regelmäßiger Shuttle für ältere Menschen. Ziel der Gläubigen ist der Altar in der Gnadenkapelle mit der gekrönten Marien-Statue, der genau an dem Ort steht, wo sich die Erscheinung vor 150 Jahren abspielte.

Bereits zwei Uhr in der Nacht macht sich eine Pilgergruppe zu Fuß von Rumburk auf. Noch früher startet die Pilgergruppe aus Šluknov (Schluckenau). Sie bricht kurz nach Mitternacht auf. Wie viele Pilger dann die Kirche bevölkern werden, kann Klára Mágrová natürlich nur schätzen. 1 000 aus Tschechien, Deutschland, Polen und der Slowakei waren es letztes Jahr. Dieses Mal dürften es mehr werden.

Um zu begreifen, was so viele Menschen bei eisiger Kälte, oft mitten in der Woche und mitten in der Nacht nach Filipov treibt, schlägt die Kirchenmitarbeiterin das eng beschriebene Besucherbuch auf. Immer wieder ist von Gesundungen die Rede. „Das hier ist bis heute ein Gnadenort“, sagt sie. Es komme zu „wundersamen Heilungen“, die Besucher schreiben es selbst so. Gerade das ist aber die größere Sorge der resoluten Frau. „Von einem ‚Wunder‘ dürfen wir nicht mehr sprechen“, sagt sie. Anweisung von oben, was in diesem Fall das Bistum Litomìøice ist.

Stattdessen sollen für die Heilung der Magdalena Kade und die Erscheinung der Jungfrau Maria andere Worte verwendet werden – man solle zum Beispiel von Verehrung sprechen. Hintergrund ist, dass die Heilung der Magdalena Kade nie als Heilwunder anerkannt wurde. „Der Prozess wurde eingeleitet, aber dann kamen wohl Krieg und Vertreibung der Deutschen dazwischen“, mutmaßt Mágrová, warum es letztendlich nicht dazu gekommen ist. Und das, obwohl Papst Pius XI. 1926 die Kirche selbst zu einer Basilika minor erhoben hat, ein Ehrentitel, der nur wenigen Kirchen zuteilwird. Außerdem hängt über dem Kircheneingang ein Papstzeichen.

Zweifel am Wunder

Dazu kommt der Wirbel, den ein inzwischen erschienenes Buch der Stern-Journalistin Kerstin Schneider über das Heilwunder verursacht hat. Sie zweifelt das Marienerlebnis an. Magdalena Kade sei, wie ihre Großnichte Marie, geisteskrank gewesen. Nur während Kade bis zu ihrem Tod hochverehrt wurde, wurde Marie als unwertes Leben von den Nationalsozialisten umgebracht. „Magdalena Kade hatte sicher kein leichtes Leben, und sie hatte auch psychische Probleme“, erwidert Mágrová. Aber die Heilung sei geschehen, daran lasse sich nicht deuteln. „Sie war sterbenskrank, hatte schon die Totensalbung bekommen, und auf einmal waren alle Schmerzen weg, und sie lebte noch 40 Jahre weiter. Was bitte ist das anderes, als ein Wunder? Zumal alle es so nennen.“

Ein Wunder, wenn vielleicht nicht im streng päpstlichen Sinne, ist die Kirche so oder so. Denn nach 1945 stand sie auf einmal von Stacheldraht umgeben im Grenzgebiet. Die Behörden machten es den Menschen schwer, die Kirche zu betreten. Am Ende sollte sie sogar abgerissen werden. Vor dem Verfall wurde sie von einem Priester und spendenfreudigen Gläubigen in Ost und West gerettet. In all den Jahren gab es immer Menschen, die am 13. Januar nach Filipov pilgerten. Denen dürfte eine päpstliche Bestätigung reichlich egal gewesen sein, vermutet Mágrová. Und Hotels brauchten sie auch nicht.