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Ein Skandal und seine Folgen

US-Teamarzt Larry Nassar verging sich an 265 Turnerinnen. Das wäre in Deutschland undenkbar, sagen zwei Trainer.

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© Getty Images

Von Alexander Hiller

Die Geschichte ist ungeheuerlich und in ihrem Ausmaß beispiellos. Larry Nassar, ein unscheinbarer dunkelhaariger kleiner Mann mit Brille, hat über Jahrzehnte hinweg seine Stellung als Sportmediziner missbraucht. Als Mannschaftsarzt der US-amerikanischen Turn-Nationalmannschaft verging sich der heute 54-Jährige an mindestens 265 Turnerinnen sexuell. Nassar wurde im Frühjahr zu 175 Jahren Haft verurteilt. Zu den Opfern gehörten einige der weltbesten Turnerinnen wie die Olympiasiegerinnen Simone Biles, Aly Raisman und Gabby Douglas.

Durch eine Mauer aus Einschüchterung, Angst, sportlicher Abhängigkeit und Wegsehen weitete sich der Skandal über Jahre aus, zudem wurden einzelne Missbrauchsanzeigen negiert und vertuscht. „Wenn nur ein einziger Erwachsener zugehört, geglaubt und dann gehandelt hätte, hätten viele von uns Nassar niemals kennengelernt“, sagte Raisman. Die missbrauchten Kunstturnerinnen sind jetzt mit dem Arthur Ashe Courage Award geehrt worden. Mit dem Preis wird dem ehemaligen Wimbledonsieger gedacht, der in der Bürgerrechtsbewegung in den USA engagiert war.

System nicht zu vergleichen

Diese unfassbare Geschichte wirft einen Schatten auf die in den vergangenen Jahren erfolgreichste Turnnation der Welt. In Deutschland, sagen Experten, wäre ein solcher Fall undenkbar. „Das bisher im amerikanischen Turnen übliche System unterscheidet sich grundlegend von unserem“, erklärt Gabriele Frehse. Die 57 Jahre alte Trainerin betreut in Chemnitz die beiden deutschen Spitzenathletinnen Pauline Schäfer, Weltmeisterin am Balken, und Sophie Scheder, Olympiadritte am Stufenbarren. Der Unterschied: In den Staaten agierten bislang Physiotherapeut, Arzt und Trainer weitestgehend unabhängig voneinander. „Hier sind wir als Trio eine Einheit, wir sprechen uns jederzeit ab. Arzt und Physio sind absolute Respektspersonen, für die lege ich meine Hände ins Feuer“, unterstreicht die langjährige Turntrainerin.

Die US-Turnerinnen wurden bisher in einem Waldgebiet bei Houston nahezu kaserniert. Auf der Karoliy Ranch, benannt nach dem Gründer-Trainerehepaar Maria und Ben Karoliy, war kaum etwas erlaubt: Eltern war der Zutritt nicht gestattet, es gab so abgelegen keinen Handy-Service, zu essen bekamen die Mädchen extrem wenig, damit sie kein Gramm an Gewicht zulegten. Und jede auch noch so gravierende Verletzung wurde heruntergespielt, berichtete die betroffene Mattie Larson in der Verhandlung gegen ihren Peiniger.

In Deutschland wäre ein solcher Umgang mit Sportlern undenkbar, betont Frehse. „Natürlich sind wir jetzt alle noch aufmerksamer, aber wir verspüren bei uns keine negativen Auswirkungen des US-Skandals“, sagt sie. Auch ihr Dresdner Kollege Tom Kroker bestätigt, dass Eltern den Trainern mit demselben Vertrauen begegnen wie bisher. „Wir haben einen großen Andrang an interessierten Kindern, die turnen wollen. Zumindest in den Vorschulgruppen, die Eltern wollen, dass sich ihre Kinder bewegen“, sagt der Cheftrainer der DSC-Turnerinnen. „Ich glaube nicht, dass der Skandal in den USA weltweit der Sportart schadet. In den Staaten führt das sicher zu einem gewaltigen Knacks. Man konnte sich von den Athletinnen immer viel abschauen. Aber zu welchem Preis das offenbar alles passiert ist …“

Eine Notwendigkeit für eine größere und breitere Debatte über den Skandal sehen die beiden deutschen Vereinstrainer in ihrer Heimat nicht. „In Trainerkreisen wurde das thematisiert, ob ein Vorfall von diesem Ausmaß hier auch möglich wäre – ich denke nicht“, verdeutlicht Kroker. „Es ist mir unerklärlich, weshalb die Sportlerinnen so lange geschwiegen haben, die sind ja älter und erfolgreich geworden. Der Druck muss unglaublich gewesen sein“, rätselt der 36-Jährige. Die vierfache Olympiasiegerin Simone Biles begründete ihr Zögern damit, dass sie sich selbst lange Vorwürfe gemacht habe. „War ich zu naiv? War es mein Fehler?“, schilderte die 21-Jährige ihren Zwiespalt.

Die deutschen Turntrainer setzen auf eine Mischung aus professionellem Umgang und vertrauensvollem Verhältnis. „Am Anfang meiner Trainerkarriere habe ich mir darüber öfter den Kopf zerbrochen, wie ich was mache, wie man rüberkommt“, sagt Kroker. „Für mich ist Distanz die oberste Devise.“ Er glaubt wie Frehse auch, dass ihre Athleten so viel Vertrauen zu ihren Übungsleitern haben, dass sie sich ihnen im Zweifelsfall anvertrauen würden. „Das denke ich und hoffe es sehr“, sagt die Chemnitzerin.

Dennoch kann es im täglichen Training zu Situationen kommen, die missverständlich für Außenstehende sein könnten. „Ich muss die Mädels auch mal anfassen“, erklärt Kroker. „Wenn die Athletin bei einer Übung drei Meter hoch in die Luft fliegt und ich merke, wenn ich nicht zugreife, landet sie auf dem Kopf, dann greife ich zu, ohne zu überlegen. Wenn ich sie dabei an unsittlichen Stellen berühren sollte, tut mir das leid, aber ich muss eingreifen, um eine schlimme Verletzung zu verhindern.“

Als zusätzliche Absicherung müssen beim Dresdner Mehrspartenverein alle hauptamtlich angestellten Mitarbeiter ein erweitertes Führungszeugnis vorlegen. Das Schreiben würde über etwaige Sexualdelikte oder Straftaten gegenüber Minderjährigen Auskunft geben. Alle ehrenamtlichen Mitarbeiter müssen den Ehrenkodex des Landessportbunds Sachsen unterzeichnen.

Larry Nassar wird nie wieder einer jungen Sportlerin seelische und körperliche Qualen zufügen können. Dennoch ist der Schaden unermesslich, für betroffene Opfer ohnehin, aber auch für das Ansehen der athletischen und kunstvollen Sportart. Dazu trägt sicherlich bei, dass die Aufklärung des Falles und die Verurteilung des Verbrechers beinahe ausschließlich einigen mutigen Athletinnen zu verdanken ist, während der amerikanische Turnverband zögerlich reagierte und die Aufklärung eher behinderte. Immerhin hat er inzwischen seinen Verhaltenskodex im Umgang mit sexuellem Missbrauch geändert: Jeder Verdachtsfall muss nun gemeldet werden. Eine Selbstverständlichkeit.