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Ein halbes Herz und eine Seele

Der kleine Faustus kam mit sieben Herzfehlern auf die Welt. Ein weltweit einmaliger Eingriff gibt ihm eine Chance.

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© Deutsches Herzzentrum

Von Henry Berndt

Auf dem Buch mit dem flauschigen Fell zum Fühlen und Streicheln steht: „Lille Kamin“. Das ist Dänisch für „kleines Kaninchen“. Sie haben das Büchlein gerade aus dem Urlaub in Dänemark mitgebracht. Faustus ist ein großer Fan. „Ja, das findste gut, was?“, sagt seine Mama Fanny zu dem kleinen Mann, der sich an diesem Vormittag vor ihr auf dem Teppich im Wohnzimmer rumkugelt. Ihr acht Monate alter Sohn ist gerade aufgewacht und noch ein bisschen müde. Er braucht mehr Ruhe als andere Kinder in seinem Alter. Abgesehen davon guckt er aber schon jetzt so frech, als habe er vor, seine Mama stets ordentlich auf Trab zu halten.

Mit Kathetern, dünn wie Drähte, und einem winzigen Stent (links) retteten die Ärzte Faustus das Leben.
Mit Kathetern, dünn wie Drähte, und einem winzigen Stent (links) retteten die Ärzte Faustus das Leben. © Deutsches Herzzentrum
Prof. Peter Ewert vom Deutschen Herzzentrum in München wagte sich an eine medizinische Pionierleistung.
Prof. Peter Ewert vom Deutschen Herzzentrum in München wagte sich an eine medizinische Pionierleistung. © Deutsches Herzzentrum

Wie stark Faustus in seinem kurzen Leben schon sein musste, sieht man ihm nicht an. Für die meisten Ärzte ist es ein Wunder, dass er überhaupt lebt. In seinem Körper schlägt nur ein halbes Herz, das außerdem bei seiner Geburt nur auf Umwegen mit der Lunge verbunden war. „Schon während der Schwangerschaft wurde festgestellt, dass da etwas Grundsätzliches nicht in Ordnung ist“, sagt Fanny, die 29-jährige Grundschullehrerin aus Dresden, die mit ihrer Familie nach Radebeul gezogen ist. Nach einer Routinekontrolle überwies sie ihr Frauenarzt ins Herzzentrum nach Leipzig, doch auch dort standen die Experten lange stumm vor dem Ultraschallbild. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Keiner konnte Fanny und ihrem Mann sagen, ob ihr Kind jemals allein atmen können würde. Trotzdem gab das junge Paar dem kleinen Leben eine Chance. „Ich bin ein sehr positiver Mensch und wir hatten doch nichts zu verlieren“, sagt sie. Ihr Mann zog mit, wollte aber von diesem Tag an keine neuen Bilder mehr sehen.

Kurzes Durchatmen

Die Geburt im Oktober in Leipzig verlief völlig normal. 2 900 Gramm. 52 Zentimeter. Faustus schrie. Und er atmete. Eine Minute durfte seine Mutter ihn auf ihrer Brust spüren. Dann brachten ihn die Kinderärzte zur Untersuchung. Sie fanden den Magen rechts und keine Milz. Vor allem aber diagnostizierten sie eine höchst unwahrscheinliche Kombination von gleich sieben Herzfehlern. Durch die „Fehlmündung der Lungenvenen“ bekam sein Körper zu wenig Sauerstoff. Schnell war aber klar: Die Operation am offenen Herzen, die sonst bei nur einer funktionierenden Kammer üblich ist, kam für Faustus nicht infrage. Es hätte keine Möglichkeit gegeben, ihn währenddessen an die Herz-Lungen-Maschine anzuschließen. Eigentlich war das sein sicheres Todesurteil. Eigentlich.

Nach einer Woche durfte Faustus zunächst nach Hause. Seine Eltern nahmen Kontakt zum Deutschen Herzzentrum in München auf, um sich eine zweite Meinung einzuholen. Auch dort rätselten die Kinderkardiologen, wie sie dem Baby helfen könnten, bis Klinikchef Peter Ewert eine Idee hatte. Über die Leisten- und die Halsvene wollte er mit Kathetern bis zum Herzen vordringen. „Wir haben einfach etwas versucht, das noch nie jemand zuvor gewagt hatte“, sagt der 55-Jährige. „Mit zwei hauchdünnen Herzkathetern von oben und unten und winzigen Drahtröhrchen ist es uns gelungen, das halbe Herz auch ohne offene OP an die wichtigen Blutgefäße anzuschließen.“ Klingt schwierig. Ist schwierig. Mit einer wahren medizinischen Pionierleistung näherte sich Ewert dem Herzen und konnte die Lage der Katheter dabei nur über Röntgenschirme und Ultraschallbilder kontrollieren. Zum Vergleich: Das Herz eines Neugeborenen ist nur etwa so groß wie eine Walnuss. Zuvor hatte Ewert diese Prozedur nur an Schweinen getestet. Immerhin erfolgreich.

Wie groß das Risiko dieses Eingriffs war, hatten die Mediziner der Familie zuvor unmissverständlich bewusst gemacht. Selbst Fanny sagt: „Wir hatten uns innerlich schon von Faustus verabschiedet.“ Selbstschutz für die Seele. „Aber Aufgeben war keine Option. Also ran. Dann haben wir es wenigstens probiert.“

„Eine lebenswerte Zukunft“

Am Karfreitag folgte die Operation. Es läuft gut, und doch ist Faustus „einen kurzen Moment auf der anderen Seite“, wie seine Mutter sich erinnert. Eine Herzdruckmassage holt ihn zurück. Der Eingriff gelingt. Faustus atmet weiter. Schnell erholt er sich von den Strapazen. Bald darf er nach Hause und endlich Kind sein. Dennoch wird genau beobachtet, wie viel Sauerstoff sein Blut transportiert. Im Februar legt ihm Chefarzt Ewert einen zweiten Stent zwischen Herz und Lungenvene. Im Juni folgt der dritte. Niemand weiß genau, was die nächsten Monate und Wochen bringen werden. „Faustus hat nun die Chance, einigermaßen normal aufzuwachsen, spielen, toben und zur Schule gehen zu können“, sagt der Kardiologe. „Wir glauben, dass er eine lebenswerte Zukunft vor sich hat.“

Mutter Fanny kann ihre Dankbarkeit kaum in Worte fassen. Alle sechs Wochen fährt sie nun mit Faustus zur Kontrolle nach München. Alle acht Stunden bekommt er Medikamente. „Er hat gerade das Drehen für sich entdeckt“, sagt sie. „Er muss ja auch einiges aufholen. Schließlich hat er den Großteil seines Lebens wie ein Käfer auf dem Rücken verbracht.“ Ein paar Tricks zum Krabbeln und Laufen zeigt ihm sicher sein großer Bruder. Der Dreijährige „liebt ihn abgöttisch“, wie die Mutter gern feststellt. „Faustus lächelt viel, ist fröhlich und lustig.“ Ab November soll er in die Krippe gehen. Ein unwahrscheinliches Leben nimmt seinen Lauf.