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Ein Dialekt macht Schule

Sächsisch in der Oberlausitz? Ein Pilotprojekt am Schleiermacher-Gymnasium Niesky lotet die Grenzen von Heimat aus.

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© André Schulze

Von Thomas Staudt

Glei geht’s los. Peter Ufer wirft einen prüfenden Blick ins Publikum und legt los. „Morschn“, ruft er munter in die Runde, eine Begrüßungsformel wie das norddeutsche „Moin“, mit dem Unterschied, dass „Morschn“ tatsächlich „Guten Morgen“ bedeutet. Dann will der Dresdner Muttersprachler wissen, wer den Leipziger Walter Ulbricht noch kennt? Keiner zuckt sich. „Das ist erst in der 10. Klasse dran“, wirft Martina Kahl ein. Die Nieskyerin ist Lehrerin für das gesellschaftswissenschaftliche Profil. Ihre leichte Schwäche für das Sächsische ist eine der Ursachen dafür, dass Ufer an diesem Mittwochmorgen vor einem speziellen Publikum steht, der Klasse 9/1 des Friedrich-Schleiermacher-Gymnasiums Niesky nämlich. Später werden die Neuneinser mit den Schülern der beiden Parallelklassen die Plätze tauschen.

Das Thema der Unterrichtseinheit ist klar definiert: Die Sprache der Sachsen – Ein Dialekt macht Schule. Im wahrsten Sinne, sozusagen, denn mit diesem Schulprojekt betreten Peter Ufer und Martina Kahl Neuland. So etwas gab es bisher nicht. Nicht in Sachsen und anderswo – aber das würde vermutlich zu weit führen. „Bei uns lässd man de Vogale breed, weech und lässsch ieber de Libbn loofn, bis alles naus is.“ Vielleicht ist dies das einzige Grundprinzip des Sächsischen. Es kennt sonst keine Regeln, sagt Ufer und lässt die Schüler nachsprechen. Der Handschuh von Goethe wird rezitiert. Das ist so etwas wie Schillers Glocke. Eine Schülerin spricht den Text, wie er in den diversen Ausgaben des Dichters und Naturforschers nachzulesen ist. Ufer übersetzt ins Sächsische, das Naturelement „das Säggsche“ heißen muss. Das Vokabular der Mundart setzt sich aus fünf Sprachen zusammen, neben dem Mittelhochdeutschen, dem Slawischen, dem Jiddischen und dem Englischen auch aus dem Französischen, lernen die Schüler. „Bomfortionös“, sagt Ufer und erklärt den Ursprung aus dem französischen „bon“ für „gut“ und „force“ für „Kraft“. Die Übersetzung ins Deutsche lautet etwa: gigantisch, phänomenal.

Über die vielen Vorbehalte gegen den Dialekt spricht er kaum. Aber das muss er nicht. Wer so selbstbewusst, so selbstverständlich und sympathisch sächsisch spricht wie er, braucht keine weitere Rechtfertigung. Ufer verfügt über einen feinen Humor, der auch die Niederungen des Allzumenschlichen nicht scheut (Stichwort: muschebubu), und eine Ausstrahlung, mit der er sicher jedes Publikum ohne viel Mühe einwickelt. Der promovierte Medien- und Geschichtswissenschaftler ist ein Profi, der jahrelang als verantwortlicher Redakteur für die Sächsische Zeitung arbeitete und dies heute als Autor immer noch tut. Er gründete eine Zeitung und ein Theater. Er moderiert, verfasst Bücher und gibt CDs heraus. Seit einigen Jahren vergibt er mit der Ilse-Bähnert-Stiftung das sächsische Wort des Jahres.

Aber was hat Sächsisch mit Niesky zu tun? „Neben dem Oberlausitzer Dialekt und einem preußischen Einschlag ‚guggen‘ wir sprachlich schon nach Sachsen“, meint Lehrerin Martina Kahl. Sie behandelt im Unterricht das Thema Heimat. Die Präsentationen der Schüler dazu seien sehr gut. Aber wenn sie nur theoretisch darüber arbeiten lasse, bringe sie keinen dazu, sich wirklich damit auseinanderzusetzen und sich vielleicht zu überlegen, dauerhaft in der Heimat zu bleiben, statt wegzuziehen.

Der Ansatz, es mit Humor zu versuchen, verfängt. La-Ola-Wellen gibt es keine, aber die Grinser liegen zahlenmäßig weit vor den Augenbrauenrunzlern. Julian hat bei den Sprach- und Übersetzungsübungen gut mitgehalten. Sein Onkel wohnt in Leipzig. „Dort habe ich viel aufgeschnappt.“ Julian hat das Intermezzo Spaß gemacht. Sächsisch sei ihm nun tatsächlich ein Stück näher. Auch Marvin „wees“ jetzt mehr, sagt er. Ob der Unterricht „off Säggsch“ tatsächlich eine Fortsetzung im nächsten Jahr erfährt? Darüber will Martina Kahl noch einmal schlafen.

„Wenn ihr Säggsch könnt, könnt ihr alle Sprachen“, sagt Peter Ufer. Augenzwinkernd, müsste an dieser Stelle vielleicht kommen. Aber Ufer zwinkert nicht, er lächelt breit. Selbst Google sei eine Erfindung der Sachsen, behauptet er. Das Wort leite sich her von der sächsischen Bezeichnung für Augen, den „Guggeln“. Ob man das in Kalifornien unterschreiben würde? Einer würde es sicher tun, wenn er noch könnte: Walter Ulbricht. Er hat sein Leben lang nur gesächselt. Manchmal hat er aber lieber gemauert als gesprochen.