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Die weiße Katze

Ein genialer Vorbereiter benötigt Technik, gutes Auge und Ruhe am Ball. In der Kombination dieser drei Dinge war keiner so perfekt wie Zinédine Zidane.

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© Matthias Schrader/dpa

Von Jens Kirschneck

Der Beton hat ihn zu dem gemacht, der er später war. Das schier endlose Spiel vor den Hochhäusern im Marseiller Viertel La Castellane. Man sagt ja gerne Problemviertel zu solchen Gegenden, und Zinédine Zidane, Sohn aus Algerien eingewanderter Berber, hat der Ort sicher eine Menge Probleme beschert, aber eben auch diesen Beton, der früh seine Technik schulte: Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, ohne den dämpfenden, das Balltempo verlangsamenden Effekt eines satten Grüns. Nur Bruchteile von Sekunden, um das Spielgerät zu antizipieren, nur Bruchteile, um es zu verarbeiten. Ein Moment des Zögerns, eine Unaufmerksamkeit, und schon ist er weg. Selbst auf Asche hast du mehr Zeit als auf diesem teuflischen Untergrund.

Vielleicht hat es deshalb nachher fast schläfrig ausgesehen, wie Zinédine Zidane mit dem Ball umgegangen ist. Nach diesen Betonplätzen muss ihm jeder andere Untergrund unendlich langsam vorgekommen sein – und manchmal sah es tatsächlich so aus, als hätte ihn der Fußball auf Rasen schlicht unterfordert. Zidane hat jedenfalls nie einen Zweifel daran gelassen, dass die im wahrsten Sinne des Wortes harte Schule seiner Kindheit essentiell für die sagenhafte Ballbeherrschung war, die ihn auf dem höchsten Level ausgezeichnet hat. Nun gibt es zwar eine Menge billige Trickser, die ein bisschen mit der Kugel umzugehen verstehen. Aber schick mal einen von diesen Leuten in einen Zweikampf auf Champions­League­Niveau, da hat es sich ganz schnell ausgezaubert. Zidane hingegen ließ auch Leute wie Ronaldinho, Fabio Cannavaro oder Ruben Baraja stehen wie Schuljungen. Vorführungen erster Klasse, ohne Ansehen der Person.

Zinédine Zidane war knapp 15 Jahre alt, als er die Hochhaussiedlung verließ und ins Fußballinternat der AS Cannes aufgenommen wurde. Und er war noch keine 17, als er sein erstes Spiel in der Ligue 1 bestritt. Rein technisch hat La Castellane also einen fast perfekten Spieler aus ihm gemacht.

Der kleine Rest – Spielverständnis, Wettkampfhärte, Persönlichkeit – kam dann nach und nach. Zunächst bei Girondins Bordeaux, wo Zidane ab 1992 an der Seite von Könnern wie Bixente Lizarazu und Christophe Dugarry spielte und vier Jahre später fast den Uefa-Cup gewann – hätte die Mannschaft nicht in den Finalspielen gegen den FC Bayern verloren. Seine Titel sammelte Zinédine Zidane später woanders, von 1996 bis 2001 bei Juventus, danach bei Real Madrid und natürlich auch mit der französischen Nationalelf.

Die Auflistung seiner Titelgewinne und persönlichen Auszeichnungen ist ehrfurchteinflößend: Welt­ und Europameister, Champions­League­Sieger, italienischer und spanischer Meister, dreifacher Weltfußballer. Und doch ist Zidane ein Spieler, dessen Größe sich nicht in erster Linie über Pokale definieren lässt. Sondern vielmehr über die unzähligen Momente, in denen er etwas mit dem Ball angestellt hat, was die Leute den Atem anhalten ließ.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang sein Spätwerk bei Real Madrid. Als Zidane ins Bernabeu kommt, ist er bereits knapp dreißig und 13 Jahre Profifußball haben ihre Spuren hinterlassen. „Man altert schlecht auf einem Fußballplatz“, hat er selbst gesagt. Andererseits ist der Zidane der Madrider Jahre mit allen Wassern gewaschen, seine Genialität speist sich aus einem wunderbaren Dreiklang: Technik trifft Auge trifft Ruhe am Ball.

Perfekt zu beobachten ist diese Symbiose am 5. Januar 2003 im Spiel gegen den FC Valencia. Ein kühler Winterabend, doch was die 65 000 Zuschauer im Estadio Santiago Bernabeu an diesem Abend zu sehen bekommen, lässt sie das unwirtliche Ambiente vergessen. Zinédine Zidane hat bereits das 1:0 des Brasilianers Ronaldo vorbereitet und das 2:1 selbst erzielt. Kurz vor Schluss steht es 3:1, dann gelingt Zidane eine Aktion – eigentlich ist es eine Kette von Aktionen –, die nicht weniger als einen der besten Assists aller Zeiten zur Folge haben.

Als der Franzose in Höhe des Mittelkreises angespielt wird, steht er mit dem Rücken zum Tor und wird sofort von hinten attackiert. Zidane zieht den Ball mit der rechten Sohle hinter seinem linken Standbein her – ein beliebter Trick von ihm! – und lässt den Gegner ins Leere laufen. Auf den nächsten läuft er frontal zu und schüttelt ihn mit einem eleganten Wackler ab wie eine lästige Fliege. Danach nähert er sich dem Strafraum, doch Valencias Viererkette steht. Reals Einwechselspieler Javier Portillo läuft um den äußeren Mann der Kette herum, und man denkt die ganze Zeit „Zidane, spiel doch endlich!“, doch er wartet, mit dem Ball am Fuß trabend, eine köstliche Ewigkeit, schaut zwischendurch gar in die andere Richtung, und als wir Nor­ malsterblichen denken, jetzt ist es aber zu spät, da endlich schiebt er die Kugel zentimetergenau durch die Schnittstelle auf Portillos Fuß, so wie er es in La Castellane tausendfach geübt haben wird. Der Rest ist Formsache.