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Die Unbetrüblichen

Obwohl Bestatter tagtäglich mit dem Tod zu tun haben, dürfen sie auch mal lachen. Ein Besuch dort, wo die letzte Reise beginnt.

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© Marko Förster

Von Jörg Stock

Dippoldiswalde/Pirna. Wasserblau sind die Augen. Sie strahlen, obwohl sie schon so alt sind. 83 Jahre. Sie schauen in das Licht der Deckenlampe, ohne einen Wimpernschlag. Was mögen sie alles gesehen haben? Oliver Zimmermann denkt darüber nicht mehr nach. Schon lange nicht mehr. Anfangs war die Arbeit gewöhnungsbedürftig, sagt er. Jetzt ist sie meist Routine. Mit spitzer Pinzette fasst er die erschlafften Lider und deckt die blauen Augen zu. Wenn er heute Nachmittag durch das Friedhofstor fährt, nach Hause, zu seiner Familie, hat er sie wahrscheinlich schon vergessen.

Der letzte Weg

Ankleiden für den letzten Weg: Schuhe oder Gürtel sind nicht erlaubt, um die Krematoriumsöfen zu schonen.
Ankleiden für den letzten Weg: Schuhe oder Gürtel sind nicht erlaubt, um die Krematoriumsöfen zu schonen.
Vor dem Einsargen werden die Leichname hygienisch behandelt, vor allem gewaschen und desinfiziert.
Vor dem Einsargen werden die Leichname hygienisch behandelt, vor allem gewaschen und desinfiziert.
Kiefer oder Eiche? Blick in das Sarglager der Firma Billing am Pirnaer Friedhof.
Kiefer oder Eiche? Blick in das Sarglager der Firma Billing am Pirnaer Friedhof.
Würdevoller Abschied: Ein fertig versorgter Verstorbener ruht im Kühlhaus.
Würdevoller Abschied: Ein fertig versorgter Verstorbener ruht im Kühlhaus.
„Eher eine Berufung als ein Beruf.“ Bestattermeister Uwe Billing (48) hat vorerst keine Nachwuchssorgen.
„Eher eine Berufung als ein Beruf.“ Bestattermeister Uwe Billing (48) hat vorerst keine Nachwuchssorgen.

Der Tod ist ein Tabu. Nur wer nicht anders kann, gibt sich mit ihm ab. Bestatter leben gegen den Trend. Sie treffen den Tod freiwillig, jeden Tag. Und die Zunft legt zu. Laut Handwerkskammer ist die Zahl der Bestattungsinstitute zwischen Meißen und Görlitz während der letzten zehn Jahre von 95 auf 112 gestiegen. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge waren es 2007 noch 18 Firmen. 2017 sind es 22.

Die Arbeitsagentur hingegen verzeichnet keinen Aufschwung im Metier. Die Berufsberater in Pirna schätzen, dass etwa alle zwei Jahre mal ein Jugendlicher nach der Bestattungsfachkraft fragt. Lehrstellen sind im Landkreis zurzeit nicht bekannt. Auch offene Stellen als Bestatter hat die Pirnaer Agentur keine anzubieten. In ganz Sachsen waren zuletzt nur sieben freie Arbeitsplätze im Bestattungswesen gemeldet.

Für den Pirnaer Bestattermeister Uwe Billing, Chef von mehr als einem Dutzend Angestellten, ist Nachwuchsmangel kein Thema. Dieser Tage wird wieder ein Lehrvertrag unterschrieben. Für 2019 gibt es Anfragen. Auch Praktikanten hat er immer wieder. Die seien von dem Beruf ganz angetan. Es ist mehr eine Berufung als ein Beruf, findet er. Man muss die Trauer aushalten, die einem jeden Tag entgegenschlägt, und man muss sachlich dabei bleiben. Einfühlungsvermögen ist trotzdem wichtig, ja, vielleicht sogar eine Art Helfersyndrom. „Und das haben viele junge Leute.“

Die Arbeitsräume der Billings liegen am Saum des Pirnaer Friedhofs. Hier treffen die Verstorbenen zur Versorgung ein oder werden, fertig eingesargt, auf die letzte Reise geschickt, zur Grabstelle oder ins Krematorium. Nebenan stehen Wohnhäuser. Probleme mit den Leuten? Gibt es keine, sagen die Bestatter. Die sind es gewöhnt, dass hier „Leichenverkehr“ stattfindet. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, schwatzt man mal kurz über den Gartenzaun.

Drinnen wähnt sich die Nase in einer Tischlerei. Der Duft frisch gehobelten Holzes kommt von den Totenschreinen, die zu Dutzenden an der Wand lehnen. Die preiswerte Kiefer wird am häufigsten gewählt, sagt Uwe Billing, auf Wunsch farblich veredelt, etwa in Nussbaum oder Wildkirsche. Für gehobene Ansprüche steht Eiche bereit. Sie ist vierzig, fünfzig Prozent teurer als der Nadelbaum. Auch Übergrößen sind am Lager. Sie werden mehr und mehr gebraucht. Die Statur der Verstorbenen werde „immer amerikanischer“, sagt Meister Billing. Einmal wog ein Leichnam an die dreihundert Kilo. Aus dem 5. Stock musste er geborgen werden, ohne Fahrstuhl. „Das war eine Schinderei.“

Im Versorgungsraum wird nun das genaue Gegenteil eines Schwergewichtes auf den Arbeitstisch von Oliver Zimmermann gehoben. Eine ganz kleine Frau, höchstens vierzig Kilo schwer, zerbrechlich, wie aus Wachs gemacht. Neben dem Auftragszettel, der an die Wand geheftet ist, steht das Geburtsjahr: 1924. Da kam Stalin grade an die Macht, Hitler saß noch in Festungshaft und das erste Flugzeug umkreiste die Welt. „Ein schönes Alter“, sagt der Bestatter. Er nebelt Desinfektionslösung über den Körper und beginnt die Waschung.

Wären da nicht der weiße Kittel und die Einweghandschuhe, man könnte meinen, Oliver Zimmermann sei einem trendigen Männermagazin entstiegen: schnittige Frisur, schnittige Brille, hipper Vollbart, dazu das eine oder andere Tattoo, teilweise inspiriert von populären Kinofilmen. Er ist ein großer Filmfan, hortet daheim Tausende Streifen. Nur Komödien fehlen. Mit seinem Beruf hat das aber nichts zu tun. Auch Bestatter dürfen mal lachen, sagt er, wenn es die Situation erlaubt. „Wir blasen nicht den ganzen Tag Trübsal, wie alle denken.“

Mit flinken Fingern verteilt Oliver Zimmermann Waschlotion auf der fahlen Haut und im grauen Haar der Toten, spült ab, tupft, fönt. Er ist ein Quereinsteiger. Gelernt hat er einmal Autolackierer. Danach ging er zwei Jahre zum Bund, war auch in Afghanistan. Dann traf er seine Frau, das erste Kind kam. Da gab er die Armee auf. Der Zufall führte ihn zu Bestatter Billing, eigentlich nur als Aushilfe. Nach einem Monat bot ihm der Chef die Ausbildung an, und er sagte ja. Man soll seine Chancen im Leben nutzen, findet er. „Oder?“

Die kleine Großmutter wird angekleidet. Oft bringt die Familie Sachen vorbei. Hier aber gibt der Arbeitsauftrag den einfachen Damentalar vor, also das Sterbehemd. Die Urne ist auch vermerkt: Nummer 5443. Aus dem Effeff weiß Oliver Zimmermann, dass es eine weinrot marmorierte Metalldose ist, mit einer Rose vorne drauf. Standard, aber schön. Andere, die er „Neunziger-Jahre-Urnen“ nennt, findet er nicht so schön. Gekauft werden sie trotzdem. „Schönheit ist Geschmackssache.“ Aber auch eine Sache des Geldes. Für eine gängige Urnenbeisetzung sollte man ungefähr mit dreieinhalb Tausend Euro rechnen. Aufwendige Sargbestattungen können fünf- oder sechstausend Euro kosten. Oliver Zimmermann findet es schade, dass die letzte Ruhe in Deutschland zuerst als Kostenfaktor gilt. Darunter leide die Bestattungskultur. Aber auch darunter, dass der Tod nicht mehr als Teil des Lebens verstanden werde. „Wenn ich daran denke, wie andere Kulturen ihre Verstorbenen feiern…“

Die alte Frau liegt in ihrem Kiefernsarg, die Hände auf der mit Röschen verzierten Decke gefaltet. Den friedlichen Eindruck stört nur der offene Mund. Stünde jetzt eine Abschiedsfeier an, würde Oliver Zimmermann die Lippen mit Nadel und Faden verschließen. Doch es kommt keiner zum Abschied nehmen. So bleibt der Mund offen. Das erleichtert dem Leichenbeschauer im Krematorium die Arbeit.

Oliver Zimmermann sagt, dass ihm sein Beruf Spaß macht. Wie hat man Spaß mit dem Tod? „Wir haben es mehr mit Lebenden zu tun als mit Toten“, erklärt er. Und was ist mit Toten, die nicht so friedlich entschlafen sind wie die Greisin? Darüber ist Oliver Zimmermann hinweg. Gleich in der ersten Woche musste er an die Bahngleise fahren, die Körperteile eines Selbstmörders einzusammeln. „Wenn du das aushältst, hältst du alles aus.“ Heikel wird es, wenn Kinder sterben. Weil es wider die Natur ist, sagt Oliver. Er nimmt Anteil, aber er leidet nicht mit. Mag sein, dass er an solchen Tagen seinen kleinen Sohn besonders fest drückt und ihm sagt, wie lieb er ihn hat. „Aber dann ist auch wieder gut.“

Wie möchte der Bestatter selbst einmal bestattet werden? Auf keinen Fall mit Pfarrer. Zur Religion hat er nie einen Zugang gefunden, sagt Oliver Zimmermann. Etliche in seiner Familie spenden ihre Körper dem skandalumwitterten Plastinator Gunther von Hagens. Für ihn kommt das nicht infrage. Wenn es so weit ist, sagt er, dann will er einfach verschwinden, auf der Wiese, im Wald, irgendwo. Ihm ist es einerlei. „Ich bin ja dann tot.“