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Die Tränen von Emma bewegen Amerika

Weit mehr als eine Million Menschen haben in Washington und weltweit für strengere Waffengesetze demonstriert.

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© dpa/Alex Brandon

Von Thomas J. Spang, SZ-Korrespondent in Washington D.C.

Es gibt Momente, in denen Schweigen mehr sagt als tausend Worte. Bei strahlendem Sonnenschein erlebten die mehr als 800 000 Teilnehmer am „Marsch für das Leben“ einen solchen Moment wenige Meter vom Weißen Haus entfernt. Dort stand eine junge Frau mit kahl geschorenem Kopf, Kampfjacke und löchrigen Jeans auf der Bühne und blickte wortlos über die Menge.

Die Tränen, die Emma Gonzalez über die Wangen kullern, erzählen die ganze Geschichte von Trauer, Wut und Entschlossenheit, die zu diesem politischen Frühjahrserwachen geführt haben. Sie erinnern an die siebzehn Mitschüler Emmas, die bei der jüngsten Massenschießerei an der „Marjory Stoneman Douglas Highschool“ von Parkland in Florida ihr Leben verloren. Und an die Untätigkeit der Politiker.

„Seit ich auf die Bühne kam, sind sechs Minuten und 20 Sekunden vergangen“, brach Emma ihr Schweigen. „Der Schütze hat aufgehört zu schießen, und wird bald sein Gewehr zurücklassen, sich unter die flüchtenden Studenten mischen und eine Stunde vor seiner Festnahme frei herumlaufen“. Sie verabschiedet sich mit einem Appell, der vielen unter die Haut geht. „Kämpft für Euer Leben, bevor jemand anders diese Aufgabe übernehmen muss“.

Unerschrocken und furchtlos, diese beiden Attribute treffen auch auf die anderen Redner der sogenannten „Generation Columbine“ zu. Damit gemeint sind die jungen Amerikaner, für die Schulschießereien seit dem Massaker an der Highschool vor den Toren Denvers, 1999, eine Art Normalität geworden sind.

Mehr als 187 000 Kinder an mindestens 193 Schulen in den USA haben seitdem selbst erlebt, was es bedeutet, von einem aktiven Schützen bedroht zu werden. „Wir haben genug davon, uns zu verstecken“, sagt der 18-jährige Ryan Deutsch, der zu den ausschließlich jugendlichen Rednern gehörte, die den Protestmarsch unter das Motto „Never Again“ gestellt haben. Zu den besonders bewegenden Augenblicken zählte auch ein Auftritt der neunjährigen Enkeltochter des 1968 ermordeten schwarzen Bürgerrechtlers Martin Luther King.

Bei der Demo in Washington traten auch Stars wie Miley Cyrus, Ariana Grande und Jennifer Hudson auf. Oprah Winfrey, George Clooney und Steven Spielberg halfen, den Protest zu finanzieren. Prominente wie Schauspieler Matthew McConaughey und Ex-Beatle Paul McCartney kamen zu großen Kundgebungen in anderen US-Städten wie Parkland, Chicago, Boston, Philadelphia, Miami, Houston, Los Angeles sowie New York, der Heimatstadt von US-Präsident Donald Trump. Weltweit gab es in fast 800 Städten Solidaritätsaktionen, auch in Berlin, München und Hamburg.

„Willkommen zur Revolution“, versprach der 17-jährige Cameron Kasky, ein anderer Redner der Parkland Highschool, und nicht locker zu lassen. An die Kongressabgeordneten gerichtet fügte er hinzu: „Stellt Euch auf unsere Seite oder passt auf. Die Wähler kommen“. Tatsächlich repräsentieren die Teilnehmer des Protests einen erstaunlichen Querschnitt der Gesellschaft. Was nach Ansicht von Analysten wohl auch damit zu tun hatte, dass die Schüler aus dem wohlhabenden Parkland bewusst auch Koalitionen mit Jugendlichen aus Armutsgebieten wie der „Southside“ von Chicago oder „South Central“ in Los Angeles schmiedeten.

„Diese Generation nähert sich dem Wahlalter“, zeigt sich John Feigenblatt von der Anti-Waffen-Lobby „Everytown for Gun Safety“ ermutigt von dem, was er als die Geburtsstunde einer neuen Jugendbewegung ausmacht. Allein während des Marschs in Washington registrierten sich um die 25 000 Menschen als Erstwähler.

Es gab auch Gegenwehr. „Niemand würde ihre Namen kennen, wenn jemand mit einer Waffe diesen Schützen an ihrer Schule gestoppt hätte“, erklärte Colion Noir für die Waffenlobby NRA. „Die Kids marschieren gegen ihre eigenen heuchlerischen Weltsichten“. Stimmen wie diese verschafften sich bei Gegendemonstrationen Gehör, die jedoch nicht einmal einen Bruchteil an Teilnehmern hatten.

Die Kongressabgeordneten hatten die Hauptstadt bereits für eine zweiwöchige Sitzungspause verlassen. Das Weiße Haus teilte mit, der Präsident habe den Schutz der Schüler zu „seiner obersten Priorität gemacht“. Doch Donald Trump war den Protesten am Freitag in seine Strandvilla von Mar-a-Lago entkommen und spielte Golf in seinem Club, der nur etwa 45 Minuten vom Schauplatz der jüngsten Massenschießerei an der „Marjory Stoneman Douglas Highschool“ entfernt liegt. (mit dpa)