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Die Torfstecher von Nasseböhla

Alte Akten offenbaren, in welchem Ausmaß Häftlinge für Arbeiten rund um Großenhain eingesetzt wurden.

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© Stadtverwaltung Großenhain

Von Birgit Ulbricht

Großenhain. Das Großenhainer Gefängnis scheint vergessen. Anfang 1960 geschlossen, erinnert sich keiner mehr daran, was hier einst geschehen ist. Und offenbar wollte es bis heute auch keiner wissen. Dabei waren die Häftlinge nach 1945 besonders wichtig für die Stadt. Sie sorgten nämlich dafür, dass die Großenhainer heizen konnten.

1946 bis 1951

Der Zustandsbericht des Bezirksrevisors von 1946 klingt trostlos: In den neun Zellen hocken 31 Gefangene auf engstem Raum, davon drei Frauen. Die Zellen sind primitiv, schreibt er, nur Holzverschläge, die noch mal mit Holzbrettern und Holzgittern unterteilt sind. Hier könne jederzeit ein Brand ausbrechen, heißt es. Die Küche wird als „äußerst primitiv“ eingeschätzt. Es gibt keine Wäsche mehr, die Häftlinge tragen Zivilkleidung. Die Aktenführung ist „mehr als provisorisch“, es gibt keinerlei Einzelakten und keine Listen über Wertsachen oder Geld. Ein Gefangener ist 1946 schon „getürmt“. Der Anstaltsleiter wird als „sehr gutwillig“ bezeichnet, der „sich Mühe gibt“, aber im Umgang mit Strafgefangenen „völlig unerfahren ist“. Es ist Josef Flaschel. Am 9. Mai 1947 meldet der: 47 reguläre Gefangene und acht Polizeigefangene.

Da kommt am 10. Oktober 1947 ein Brief von der Kreisgenossenschaft Torfgewinnung e.G. m.H., Bahnhofstraße 5 in Großenhain. Die Genossenschaft gibt es seit 5. Juli `47 – und sie brauchte Arbeitskräfte. Ein Herr Bertram beantragt acht Zivilpersonen zur Bewachung der 40 eingesetzten Häftlinge bei der Torfgewinnung in Nasseböhla.

Dort werden vier, fünf Meter tief Torf gestochen und von Hand zu quadratischen Soden gepresst, die dann dunkel als Brennmaterial an die Großenhainer oder heller als Dünger an die Landwirte verkauft werden. Dass nur Umsiedler, Jugendliche, Frauen oder Freiwillige aus den Betrieben Torf stechen, erweist sich als falsch und die „schon von Weitem zu sehenden Baracken“ als Außenarbeitslager des Gefängnisses.

Landgerichtsdirektor Dr. Marwitz antwortet auf den Antrag der Torfgenossenschaft des Landkreises Großenhain jedenfalls, er habe kein Problem, die acht Zivilpersonen zur Verfügung zu stellen, wenn „die Sache“ so laufe wie bei der Firma Robert Berndt (Coswig) mit dem Bau des Speicherbeckens Radeburg/ Zschorna und wenigstens ein Aufpasser am Amtsgericht Großenhain als Oberaufseher gestellt werde. Die Firma Berndt holte sich, wie aus zahlreichen Briefen deutlich wird, morgens zehn bis 30 Gefangene aus den U-Gefängnissen Großenhain und Radeburg, beaufsichtigte die Arbeiten selbst und brachte die Häftlinge abends wieder zurück.

Immer in Geldnot

Bei Torfgewinnung geht man einen Schritt weiter: Die Häftlinge werden vor Ort in jener Baracke von 20 mal acht Metern untergebracht. Sie müssen nicht nur wie anfangs 1947 den Torf stechen und die Soden zum Trocknen auf die Wiesen tragen. Sie sind es auch, die 1948 schließlich einen Gleisanschluss bauen und die schwere, feuchte Masse aus der Erde fortan in Loris umladen und die Torfpresse bedienen. Stündlich werden ab 1948 so 6 000 Soden fertig und dann zum Trocknen an der Sonne auf den umliegenden Wiesen ausgelegt.

Der Bedarf der Bevölkerung ist enorm, denn Kohle ist praktisch nicht zu bekommen. Die Bürger können aber auf Kohlekarte günstig an das Nasseböhlaer Brennmaterial kommen. 6,5 Millionen Soden werden 1948 verkauft. 1948 werden für zwei Abschnitte der Kohlenkarte einhundert Soden vergeben. Die kosten am Torfwerk fünf Mark und sind sofort bar zu bezahlen. Denn mit der Zahlungsmoral scheint es damals schon nicht weither.

Bereits am 30. Oktober 1947 stellt der Bezirksrevisor am Amtsgerichtsgefängnis resigniert fest, dass Rechnungen teils Monate nicht beglichen werden, und notiert, „auch die Kommandantur der SMA bezahlt nicht“. Die finanzielle Lage der Torfgenossenschaft war und blieb von Anfang an prekär. Die Genossenschaftsanteile von zunächst 11500 Mark reichen vorn und hinten nicht, schon kurz nach Gründung der Genossenschaft muss die Volkssolidarität mit einem zinslosen Kredit einspringen, um das Schlimmste zu verhindern. Davon wird Werkzeug gekauft und der Anschluss ans Stromnetz des Elektrizitätswerkes Gröba bezahlt. Ein weiteres Darlehn braucht die Genossenschaft bereits ein Jahr später – es werden zwei Lkw und Maschinen angeschafft sowie der Gleisbau finanziert.

Doch Anfang 1948 kommt es erneut zu großen Verlusten, durch die Währungsreform wird das Geld knapp, wieder bleiben Rechnungen liegen. Die Genossenschafter schreiben jetzt an die Landesregierung Sachsen, bitten um eine Subvention von 80 000 Mark. Das Geld kommt nicht. Die Landesregierung plant es zwar zunächst ein – die zuständigen Institutionen sind aber der Meinung, dass die Genossenschaftler für ihre finanziellen Probleme selbst aufkommen müssten.

Doch der Geschäftsführer der Gesellschaft zur Torfgewinnung, Oles, bittet das Ministerium auch um einhundert Häftlinge, „um die Arbeitskraft der Gefangenen nutzbringend für den Staat einzusetzen“. Er schlägt vor, die Baracke mit diesen einhundert Häftlingen belegen zu dürfen. Derzeit seien hier nur 35 untergebracht. Am 25. August 1948 beantragt er sogar den Bau einer zweiten Baracke  – nur für Frauen. Der Bau wird in Planung gegeben. Doch ein Frauen-Kommando wird nicht mehr zusammengestellt. Um überhaupt auf die Zuweisung der einhundert männlichen Gefangenen zu kommen, werden ab 1948 Kurzbestrafte bis zu drei Jahren Haft aus Pirna, Löbau, Aue und Schmiedeberg nach Großenhain gebracht.

Enge und mangelnde Bewachung bleiben jedoch nicht ohne Folgen. So notiert das Amtsgericht im August 1948, ein Häftling sei entflohen, „ein Fleischermeister, der dort Besitz und Familie hat und wegen Wirtschaftsverbrechen zu drei Jahren verurteilt wurde“. Das führt zum Eklat, denn das ist die vierte Flucht in diesem Jahr. Am Jahresende registriert die Anstaltsleitung für 1948 sogar zehn Geflüchtete. Häftlinge aus der Gegend werden daraufhin nicht mehr eingesetzt. Die Arbeiten sind vorerst eingestellt. Die Torfgesellschaft weist händeringend auf die Dringlichkeit der Torfversorgung für Bürger, Industrie und Landwirtschaft hin – das Ende der Torfgenossenschaft hält jedoch auch die Wiederaufnahme der Arbeit nicht auf.

1949 gibt es erneut zwei Fluchten und einen Todesfall. Ein Arbeiter hat offene Tuberkulose und andere wahrscheinlich angesteckt. Denn gemeldet wird der Fall sechs Monate lang nicht. Ein Arzt wird nicht gerufen, „weil sich der Gefangene nicht krank gemeldet hat“, so die Anstaltsleitung in einer Notiz. Im Ministerium ist man „ungehalten über die Zustände im Großenhainer Gefängnis“. Finanziell geht es der Genossenschaft weiter denkbar schlecht.

Es gibt jetzt Kohle zu kaufen und am 22. Februar 1950 schreibt der Kreisrat an das Ministerium für Industrie und Verkehr, dass die Torfgesellschaft vor dem Konkurs stehe. Er bemüht sich um einen Zuschuss zur Preisstützung. Eine Übernahme der Torfgesellschaft durch die frühere Torfverwertungsgenossenschaft für das Land Sachsen scheitert. Als die Reichsbahn einen Sicherheitsstreifen zwischen Gleis und Torfabbau verlangt, ist das Kapitel Torfstich 1950 beendet. Landkreis und Volkssolidarität verzichten auf Rückzahlung ihres Anteils bzw. ihrer Darlehn. Schulden aus Lieferverpflichtungen werden durch Umlagen beglichen. Die auswärtigen Häftlinge werden zurückverlegt.

Großenhain meldet danach noch 61 Männer und 15 Frauen im Arrest. Obwohl diese Zahl nur buchmäßig stimmt, wie die Anstaltsleitung dem Ministerium versichert. Denn 30 Gefangene sind im ständigen Arbeitslager des Stahlwerkes Gröditz, das ebenso Häftlinge anfordert und um jede Arbeitskraft mit den zuständigen Stellen verhandelt. Die Zeit der Arbeitslager geht hier zu Ende. Ab 1956 werden mit dem 2. Fünfjahresplan größere Haftarbeitslager in der Braunkohle vorgesehen.

Knast-Geschichten, Teil 4, Gefangene in Großenhain, Mittwoch 11. Oktober.