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Die schreckliche Sünde

Als kleiner Junge gewöhnte er sich daran, von seinem Priester vergewaltigt zu werden. Fast 50 Jahre später schreibt der Schweizer Daniel Pittet seine Leidensgeschichte auf.

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© dpa

Lena Klimkeit

Rom. Bevor er ihn das erste Mal vergewaltigt, erzählt der Priester dem neunjährigen Daniel, er wolle ihm im Kloster eine Amsel zeigen. Für Daniel beginnt das wohl schrecklichste Kapitel seines Lebens. Vier Jahre lang und schätzungsweise 200 Mal wird er missbraucht. Fast 50 Jahre ist das nun her.

„Ich kann nur eben gerade noch die Amsel erspähen, da zieht er mich schon in sein Zimmer. Im Befehlston sagt er: „Zieh deine Hose runter!“ Dann zieht er ein großes Ding aus seiner Unterhose und zwingt mich, ihm einen zu blasen.“ Schonungslos wie in diesen Sätzen erzählt der mittlerweile 58 Jahre alte Daniel Pittet in seinem Buch „Pater, ich vergebe euch!“ seine Leidensgeschichte. Und der Schweizer hat seinem Peiniger nicht nur vergeben. Trotz allem - und das ist viel - hat er der katholischen Kirche nie den Rücken zugewandt.

Papst Franziskus hat für Pittets erschütterndes Zeugnis das Vorwort geschrieben. Wenn ein Priester ein Kind vergewaltige, sei das „eine absolute Ungeheuerlichkeit, eine schreckliche Sünde, die allem widerspricht, was die Kirche lehrt“. Der Pontifex findet klare Worte. Doch: Tut der Vatikan alles, was in seiner Macht steht, um Missbrauch zu verhindern - oder Geschehenes aufzuklären?

Seit Jahren erschüttern Fälle von Missbrauch und Misshandlungen die katholische Kirche in Deutschland und in anderen Ländern. In den meisten Ländern der Welt würden viele Opfer noch immer nicht die Gerechtigkeit erfahren, die ihnen zustehe, beklagt Hans Zollner, Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission. Das liege nicht allein daran, dass es zu wenige kirchliche Strafrechtler gebe und sich die Anzeigen in Rom stapelten. Gegen die Aufarbeitung von Missbrauch gebe es auch „passive Widerstände“.

„Keiner würde aktiv leugnen, dass das ein schweres Verbrechen ist, dass das unsägliches Leid über die Menschen bringt“, sagt Zollner. Aber viele wollten sich einfach nicht „der Einsamkeit, der Dunkelheit, der Hölle, durch die diese Menschen gehen“ stellen.

Wie einsam ein Missbrauchopfer ist und wie dunkel nicht nur die Tage, in denen die Vergewaltigungen passieren, sind, schildert Pittet ohne Scheu - dafür brauchte es 18 Jahre Therapie, Menschen, die ihm endlich glaubten und schließlich auch den Rat des Papstes, seine Geschichte aufzuschreiben.

Pittet wuchs in einer gläubigen Familie in der französisch-sprachigen Schweiz auf. Dass sich der geschätzte Pater für den kleinen Daniel interessierte, schmeichelte Mutter und Großmutter. Auch wenn er den kleinen Jungen in der Öffentlichkeit nicht versteckte, schien das Doppelleben des vermeintlich frommen Mannes niemandem aufzufallen. Pittet selbst beschreibt sich als „kränkliches Kind“, das Hilfe brauchte. „Ich war psychisch fragil, und das verlieh mir in gewisser Weise etwas Feminines.“ Für den Pater war er das perfekte Opfer. „Ich war sein Objekt, und er hatte mich bis zum Anschlag konsumiert.“

Doch mit den grausigen Erlebnissen - im Kloster, auf dem Schulklo, in der Dunkelkammer, im Ferienlager, im Elternhaus des Paters - war es nicht genug. Jahrzehnte in Angst und Depression vergehen. Pittet bleibt mit seiner Geschichte alleine. Bis er bei einem Treffen in Fribourg einem kleinen Jungen begegnet und merkt, dass auch er vergewaltigt wurde. „Ich muss zu meinem großen Erstaunen feststellen, dass wir von dem gleichen Mann vergewaltigt worden sind. Ich kann es nicht fassen.“ Zwanzig Jahre später treibe der Pater noch immer sein Unwesen.

Pittet wendet sich an einen Bischof, der ihm glaubt, was geschehen ist. Andere Vergewaltigungsfälle werden bekannt, einige Priester wenden sich von Pittet ab, sie fühlen sich verraten. Statt verurteilt wird der Pater versetzt, Pittet kämpft darum, wenigstens eine Entschädigung vom Kapuzinerorden zu bekommen.

Der Pater wurde schließlich in Frankreich verurteilt, zu zwei Jahren Gefängnisstrafe auf Bewährung, „weil die meisten Missbrauchsfälle verjährt waren“, wie er am Ende des Buches selbst in einem Interview mit einer Freundin von Pittet sagt. „Ich bin dieser monströse Pädophile, der eine Serie von Opfern hinterlassen hat... Es ist abstoßend...“, sagt er darin. Nichtsdestotrotz wurde er erst im Juni dieses Jahres aus dem Priesterstand entlassen.

Pittet hat seinen Vergewaltiger vor kurzem wiedergetroffen. Er habe den Pater nicht wiedererkannt. „Er hat Angst gehabt!“, sagt Pittet. „Das ist ein so armer Mann. Ich bin auch ein armer, aber nicht so arm.“ Der 58-Jährige sagt, er habe ihm seine Taten vergeben. Dazu müsse man sehr demütig sein. „Es ist sehr schwierig. Aber wenn man es machen kann, dann ist man plötzlich frei.“

Daniel Pittets ist wohl einer der wenigen Fälle, der in Gänze dokumentiert und weitestgehend aufgearbeitet wurde - und das nur, weil Pittet es selbst in Gang setzte. Zollner zufolge sei die Dunkelziffer auch so hoch, weil die Opfer alles noch mal schildern müssen, was sie erlebt haben. Die Beweislast liege allein bei ihnen, sagt er. Die EU-Kommission schätzt, dass insgesamt zwischen 10 und 20 Prozent der Kinder in Europa Opfer sexuellen Missbrauchs sind.

Es gebe viel, was in der Kirche und in der Gesellschaft gegen sexuelle Gewalt getan werden könne, sagt Zollner. „Wir werden es niemals ganz ausrotten können, weder in der Kirche, noch in der Gesellschaft. Das Böse ist da, sich der Illusion hinzugeben, dass es ein für allemal ausgerottet werden könnte, das wäre wirklich eine fatale Schlussfolgerung.“ (dpa)

Daniel Pittet: Pater, ich vergebe euch! Missbraucht, aber nicht zerbrochen, Herder Verlag, 224 Seiten, 22 Euro, ISBN: 978-3-451-37914-7