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Die schlesischen Opfer vom Sonnenstein

In Pirnaer Tötungsanstalt wurden zur NS-Zeit nicht nur Kranke aus Sachsen ermordet. Eine neue Ausstellung klärt auf.

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© Repro: SZ

Von Sophie Lerche

Pirna. Mit gerade einmal elf Jahren wurde Charlotte Bothe am 30. Oktober 1935 zwangssterilisiert. Das Gesundheitsamt im schlesischen Grünberg veranlasste die Sterilisation. Zuvor diagnostizierten Ärzte bei dem kleinen Mädchen „angeborenen Schwachsinn“ – Charlottes geistige Entwicklung war etwas langsamer als gewöhnlich. „Angeborener Schwachsinn“ genügte laut der NS-Rassengesetze als Grund, sogenannte „erbkranke“ Menschen und Menschen mit psychischen Problemen zu sterilisieren.

Charlottes Leidensweg ist nur eines von dreizehn bewegenden Schicksalen aus dem neuen Buch „Vergessene Opfer der NS-Euthanasie. Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940-1945“, das der Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Boris Böhm, in diesem Jahr herausgegeben hat. Gemeinsam mit einem Team aus Ärzten, Historikern und Archivaren wurden die Patientenschicksale dokumentarisch erfasst. Das Buch beschreibt einen zuvor fast gänzlich unerforschten Teil der NS-Tötungsmaschinerie. Über 2 500 Menschen aus Schlesien, so die Erkenntnis der Forscher, fielen den nationalsozialistischen Krankenmorden in Sachsen zum Opfer.

Zu dem Band aus der Reihe „Zeitfenster“ der Stiftung Sächsischer Gedenkstätten ist in Pirna derzeit eine Sonderausstellung zu sehen, in der die Ergebnisse der Forschungen zusammengefasst sind. Auf 21 Tafeln können sich Besucher über die Zeit der „Aktion T4“, die nationalsozialistischen Krankenmorde und deren schlesische Opfer informieren. Auch in der Schau werden Schicksale von Opfern dargestellt, wodurch die besonders berührt.

„Das Recherchieren von Namen der Opfer ist heute, in der Zeit des Internets, bedeutend leichter als früher.“, sagt Boris Böhm. „Allerdings sind viele Unterlagen verschwunden oder zerstört. Somit kommen wir nur ganz selten an Daten von einzelnen Personen heran.“ Das Gleiche gelte für Bilder. „Viele sind in sehr schlechter Qualität oder bereits komplett zerstört.“, so der Leiter der Gedenkstätte. „Daher erhoffen wir uns von der Ausstellung unter anderem, dass sich Angehörige der Opfer melden, um uns mit der Weiterentwicklung von einzelnen Biografien – und somit der weiteren Aufklärung dieser Zeit – zu helfen.“

Tod durch Verhungern

Die Wanderausstellung war bereits in Breslau mit großem Erfolg zu sehen und soll in den kommenden zwei Jahren noch viele weitere Stationen durchlaufen. Unter anderem auch in Schlesien selbst. „Anders als bei uns in Deutschland werden die Ereignisse aus dieser Zeit in Polen fast gar nicht thematisiert. Deswegen ist es uns sehr wichtig, vor Ort zu informieren und aufzuklären.“, so Boris Böhm. Die Ausstellung auf dem Sonnenstein kann noch bis zum 10. August besucht werden.

Im Juni 1941 wurde Charlotte Bothe aus Schlesien in die sächsische Landesanstalt Arnsdorf gebracht, um später in die Tötungsanstalt nach Pirna-Sonnenstein verlegt zu werden. Dort sollte sie wie Tausende Patienten vor ihr ermordet werden. Weil die „Aktion T4“ im August 1941 jedoch eingestellt wurde, blieb ihr der Transport auf den Sonnenstein erspart. Ihr Leben rettete das nicht. Nach circa eineinhalb Jahren in Arnsdorf wurde sie im Januar 1942 in die Landesanstalt nach Großschweidnitz weiterverlegt, in der sie fast genau ein Jahr nach ihrer Ankunft am 8. Januar 1943 stirbt.

Laut Aufzeichnungen des Abteilungsarztes waren Lungenentzündung und Untergewicht für den Tod des Mädchens verantwortlich. Die Kombination aus beiden Ursachen ist für die Wissenschaftler heute ein eindeutiger Beweis dafür, dass Charlotte gezielt durch Hunger und Medikamente getötet wurde.

Sonderausstellung: „Vergessene Opfer der NS-Euthanasie. Die Ermordung schlesischer Anstaltspatienten 1940-1945“ bis 10. August, Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, Schlosspark 11. Der Eintritt ist frei.