Merken

„Die Russlanddeutschen sind alle so!“ – Wirklich?

Am 1. Juli hat der 28-jährige Russlanddeutsche Alexander W. im Dresdner Landgericht eine 31-jährige Ägypterin mit 18 Messerstichen ermordet. Vorausgegangen war im vergangenen Sommer ein verbaler Konflikt...

Teilen
Folgen

Von Stefan Troebst

Am 1. Juli hat der 28-jährige Russlanddeutsche Alexander W. im Dresdner Landgericht eine 31-jährige Ägypterin mit 18 Messerstichen ermordet. Vorausgegangen war im vergangenen Sommer ein verbaler Konflikt auf einem Spielplatz: Die junge Frau wurde vom Angeklagten als „Islamistin“ und „Moslem-Schlampe“, gar als „Terroristin“ beschimpft. Dafür wurde Alexander W. im November 2008 wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Sieben Monate später kam es zur Berufungsverhandlung – und zum Mord.

Deutsche wie arabische Medien haben umgehend auf einen Kampf „fremder“ Kulturen auf sächsischem Boden geschlossen: „Typisch“ osteuropäische Ressentiments wie Antisemitismus, Islamophobie und Ethnonationalismus hätten in explosiver Kombination mit russlanddeutscher Fremdenfeindlichkeit und überkommenem teutonischem Überwertigkeitswahn zu der Bluttat an einer an ihrer Kleidung erkennbaren Muslima geführt, die dadurch zu einer „Märtyrerin des Kopftuchs“ geworden sei. Damit wurden die Themen Gewalt, Migration, Islam und nationale Identität zu einer brisanten Mischung verrührt, ja Multiethnizität und Multikulturalität als etwas Bedrohliches charakterisiert.

Dies ist vor allem deswegen bedenklich, als über den Täter, seine Geisteshaltung und sein Umfeld nur wenig bekannt ist: Alexander W. wurde 1981 in der sowjetischen Großstadt Perm im Ural geboren, wo er den Hauptschulabschluss sowie eine Lehre als Lagerarbeiter absolviert haben soll. Für das in der Presse kolportierte Gerücht, dass er in den 1990er Jahren als Angehöriger der russischen Streitkräfte in Tschetschenien gegen islamische Rebellen gekämpft und dabei das Töten mit dem Messer gelernt habe, gibt es bislang keine Belege. 2003 in die Bundesrepublik gekommen, soll er temporär für eine Zeitarbeitsfirma tätig gewesen sein, vor allem aber von Hartz IV gelebt haben. Er ist deutscher Staatsangehöriger, unverheiratet und in Dresden wohnhaft. Eigenen Angaben am Rande des Gerichtsprozesses zufolge ist er NPD-Wähler. Aus seinen Aussagen vor Gericht kann zweifelsohne auf aggressiven Ausländerhass geschlossen werden.

Bleibt indes die Frage danach, ob der Täter seine krankhafte Xenophobie aus seiner russischen Herkunftsregion „mitgebracht“ oder erst in seiner neuen sächsischen Heimat „erworben“ hat. Dies ist natürlich nur in Kenntnis der – weiterhin unbekannten – persönlichen Lebensumstände von Alexander W. zu beantworten. Die Dresdner Justiz wartet diesbezüglich auf Informationen seitens der russischen Behörden. Allerdings können mit Blick auf das Knäuel von öffentlich geäußerten Vermutungen und stereotypen Vorurteilen zumindest drei Sachverhalte als gesichert angenommen werden.

Erstens, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind in der Tat im postsowjetischen Russland auf dem Vormarsch. „Schwarze“, das heißt Kaukasier wie Tschetschenen und Georgier, aber auch aus Zentralasien stammende Muslime werden von Behörden diskriminiert, gar mitunter misshandelt und sind überdies Ziel von Übergriffen rechtsextremer Gruppierungen. In den beiden dramatischen Umbruchsjahrzehnten seit dem Zerfall der Sowjetunion mit ihren dramatischen sozialen Verwerfungen hat sich ein russischer Nationalismus formiert, der neben den staatlichen Eliten auch und gerade die Verlierer der Transformation umfasst. Nicht-Russen, Nicht-Slawen und Nicht-Europäer, hier vor allem Muslime und Asiaten, sind bevorzugte Opfer.

Zugleich wirkt aber auch im neuen Russland die imperiale Tradition nach, der zufolge sich sowohl das Zarenreich als auch die UdSSR als multiethnische, vielsprachige und multireligiöse Reichsbildungen verstanden und verstehen. Imperien sind bekanntlich nicht-national, da sie Angehörige vieler Nationen und ethnischer Gruppen einschließen – und das ist auch in der Russischen Föderation so. Wladimir Putins Katastrophenminister Sergej Schojgu etwa, derzeit einer der populärsten Politiker dort, gehört der turksprachig-buddhistischen Minderheit der Tuwiner an, und Moskaus Mann in Tschetschenien ist der mit Staatsterror herrschende Moslem Ramsan Kadyrow. Und der Russlanddeutsche Hermann Gräf – auf Russisch German Gref – war von 2000 bis 2007 Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel Russlands.

Zweitens, die Russlanddeutschen wurden zwar zu Stalins Zeiten Opfer von Deportation, Zwangsarbeit und Inhaftierung, bewahrten aber dennoch im kollektiven Gedächtnis die Privilegien, welche sie als „von den Zaren Adoptierte“ im Russischen Reich besaßen. Viele von ihnen waren im 18. und 19. Jahrhundert aus dem deutschsprachigen Raum als Glaubensflüchtlinge an die Wolga, nach St. Petersburg, in den Ural, nach Bessarabien oder auf die Krim gekommen, um ihre mennonitischen, baptistischen und anderen Formen des Christentums zu leben. Entsprechend schwierig verlief regional die Integration der über zwei Millionen russlanddeutschen Spätaussiedler, die seit den 1980er Jahren in großer Zahl aus der Sowjetunion, nach deren Zerfall dann aus Kasachstan, Kirgistan und dem sibirischen Teil Russlands in die Bundesrepublik kamen. Vor allem Jugendliche, welche die Übersiedlung ihrer Eltern aus ihrem russischsprachigen Umfeld riss und die in aller Regel keine deutschen Sprachkenntnisse mitbrachten, neigten zu Abschottung und Gettobildung – einschließlich der Rivalität zu anderen Jugendgruppen wie etwa türkischen oder arabischen. Während in einigen Milieus junge Russlanddeutsche bis heute ihr „Russisch-Sein“ unterstreichen, betonen andere ihr neues „Deutsch-Sein“, nicht zuletzt gegenüber denjenigen in Deutschland, die aus ihrer Sicht nicht „deutsch“ sind. Die große Mehrzahl der Russlanddeutschen hierzulande jedoch hat sich binnen kurzer Zeit gleichsam geräuschlos in die Mehrheitsgesellschaft integriert.

Drittens schließlich findet sich in Deutschland, zumal in Sachsen, ein infrastrukturell gut ausgebautes rechtsextrem-ausländerfeindliches Umfeld, welches gezielt Russlanddeutsche anspricht. So versucht die NPD, über ihren „Arbeitskreis der Russlanddeutschen“ Mitglieder in dieser Personengruppe zu werben. NPD-nah ist der „Freundeskreis Russlanddeutsche Konservative“ um den russlanddeutschen Juristen Viktor Kasper aus Hannover, und der Rechtsextremist Ludwig Limmer erwarb 2005 in Borna bei Leipzig eine Immobilie zur Einrichtung eines Begegnungszentrums für Russlanddeutsche. Wie erfolgreich der rechtsextreme Rand mit seiner Propaganda bei den Russlanddeutschen der ersten, zweiten und mittlerweile dritten Generation ist, ist schwer messbar, doch sind lokale Erfolge nicht unwahrscheinlich.

Ausländerfeindlichkeit ist selbst in ihrer pathologischen Form kein ethnogenetischer Defekt, sondern Ergebnis individueller Sozialisation. Was, wann, wo, wie und warum bei Alexander W. diesbezüglich schiefgelaufen ist, wissen wir nicht. Vielleicht werden wir es von ihm im anstehenden Mordprozess erfahren. Nicht auszuschließen ist, dass der mit seiner Übersiedlung vom Ural ins Elbtal verbundene soziale Abstieg und/oder seine Affinität für die NPD Grund für seine militante Ausländerfeindlichkeit und seine grausame Tat sind.

Mit seiner Herkunft aus Russland hat sein Fremdenhass allerdings nichts zu tun. Stünde sonst die russlanddeutsche Rocksängerin Jule Neigel, die im sibirischen Barnaul geboren wurde, gemeinsam mit Tina Turner und Paco de Lucia auf der Bühne?