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Die Pogromnacht in Meißen

Vor 80 Jahren flogen Steine durch die Schaufenster von Händlern – weil sie Juden waren. Doch was genau geschah am 9./10. November 1938 in Meißen?

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© dpa

Von Dominique Bielmeier

Meißen. Kein (guter) Deutscher kauft bei einem Juden. Diese Parole galt Ende der 30er Jahre im ganzen Land. Die NSDAP markierte Geschäfte mit jüdischen Inhabern durch große Plakate, stellte uniformierte Posten davor auf. Auch in Meißen, der Stadt, die noch wenige Jahre zuvor als Hochburg der Sozialdemokratie galt?

Was in der Nacht vom 9. auf den 10. November vor 80 Jahren in Meißen geschehen ist, wissen wir aus den Berichten derjenigen, die dabei waren. Für eine Belegarbeit im Fach Geschichte haben zwei Meißner Gymnasiasten im Jahr 1992 mit mehreren Zeitzeugen gesprochen und anonymisierte Tonbandprotokolle dieser Gespräche angefertigt. Im Stadtarchiv werden sie noch heute aufbewahrt, gesammelt in den Unterlagen des verstorbenen Stadthistorikers Gerhard Steinecke.

„In dieser Nacht ist kein Judengeschäft verschont geblieben“, erinnert sich eine Zeitzeugin, Frau R., in einem Protokoll. „Man mußte dann auch aufpassen, damit man keinen Stein an den Kopf bekam.“ In der Stadt habe es furchtbar ausgesehen: „Nichts als Scherben, überall Scherben.“

Am Abend zuvor versammelten sich auf dem Burgberg über 100 Fackelträger der Hitlerjugend. Am Wendelstein der Albrechtsburg war eine riesige Hakenkreuzfahne angebracht, wie Fotos belegen. „Dort sprach irgendein Nationalsozialist“, erinnert sich Frau R. Sie habe damals ihre Großmutter besucht, die gleich in der Nähe wohnte, hörte so die Rede. Eine regelrechte Hetzrede sei es gewesen, wie andere Zeitzeugen berichten. Ein Bekannter habe Frau R. gewarnt: „Bleiben Sie nicht hier stehen, für heute Nacht ist etwas Furchtbares geplant, gehen Sie lieber nach Hause.“

Die Geschäfte der jüdischen Händler Sachs, Loewenthal und Heymann sowie das große Kaufhaus Schocken wurden in dieser Nacht geplündert. Männliche Juden wurden in „Schutzhaft“ genommen und am anderen Tag auf dem Marktplatz zur Schau gestellt. Darunter auch Doktor Willi Weiner, bekannt dafür, arme Patienten umsonst zu behandeln. Nun spuckten ihm vorbeikommende Bürger ins Gesicht. „Nach dieser Nacht sind einige geflüchtet“, sagt Frau R. laut Tonbandprotokoll. „Sie wußten dann auch nicht mehr, wem sie noch trauen können.“

Eine von denen, die ging: Rosa Cohn, 44-jährige Witwe, die ein Bekleidungsgeschäft im noch heute schmalsten Haus des Roßmarkts, früher Gerbergasse, führte. Schon im Dezember verkaufte sie ihr Geschäft, zog erst nach Dresden, dann Leipzig. Im Januar 1942 wurde sie nach Riga deportiert, kam dann in das KZ Stutthof bei Danzig. Am 3. Oktober 1951 wurde sie für tot erklärt. Heute erinnert ein Stolperstein auf dem Fußweg vor dem Roßmarkt 1 an dieses Schicksal.

Die Bürgerinitiative Stolpersteine Meißen e. V. wird am Freitag ab 15 Uhr eine Gedenkveranstaltung auf dem Meißner Markt abhalten, bei der auch Judy Benton, die mit 17 Jahren aus Meißen fliehen konnte und heute 97 ist, per Mail zur Sprache kommen soll. „Im Anschluss führen wir die Gruppen zu den bereits verlegten Stolpersteinen und erinnern vor Ort an die Meißner jüdischen Opfer von Vertreibung und Vernichtung“, teilt Pfarrer Bernd Oehler mit. Am Abend dann erinnert die Kirchgemeinde in der Frauenkirche bei einem Konzert an die Musik dieser untergegangenen Kultur.