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Die Lügengeschichten der Stasi

Was Sie hier lesen, ist eine Geschichte über Lügen, Verleumdung und Erpressung. Eine Geschichte auch über Hoffnung und den Glauben an das Recht. Es ist die Geschichte der Margit Kreuzer.

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Von Rolf Langenhuisen

Was Sie hier lesen, ist eine Geschichte über Lügen, Verleumdung und Erpressung. Eine Geschichte auch über Hoffnung und den Glauben an das Recht. Es ist die Geschichte der Margit Kreuzer.

Kreuzer, geboren als Margit Oettler am 26. Juni 1948, stammt aus Riesa. Sie geht auf die Karl-Marx-Schule, ist bei Lokomotive Riesa im Schwimmsport aktiv. Freunde nennen sie „Mecke“. In Dresden wird sie von 1965 bis 1967 zur Krippenerzieherin ausgebildet. Eine selbstbewusste und energische Person.

1969 heiratet die blonde Frau und lebt mit ihrem Mann Bernd in Nünchritz. Als Erzieherin in der Kinderkrippe II verdient sie im Monat 480 Mark. Ende 1973 wird die Ehe geschieden, im Februar 1974 kommt der gemeinsame Sohn Bert zur Welt.

Weihnachten 1976 verlobt sich die 28-Jährige mit dem Riesaer Taxifahrer Roland Dumlich. Die Hochzeit, heißt es, soll im August 1977 sein. Doch dazu kommt es nicht. Dumlich flieht im Mai 1977 mit einem Schlauchboot über die Ostsee. Jetzt nimmt die Staatssicherheit Margit Kreuzer ins Visier. Sie erzählt: „Als der Dumlich mich aus dem Westen anrief, klinkte sich plötzlich eine fremde Stimme ins Gespräch ein: ,Überlegen Sie, was Sie jetzt sagen, Frau Kreuzer! Es wird Konsequenzen haben‘.“

Die Alleinerziehende will zu ihrem Partner in die Bundesrepublik. „Hiermit möchte ich von meinem verfassungsmäßig garantierten und im Grundlagenvertrag verankerten Recht Gebrauch machen, einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen. Dieses Recht ist auch in der KSZE-Schlussakte von unserer obersten Staatsführung bekräftigt worden.“ Ihren Ausreiseantrag adressiert Margit Kreuzer am 1. Juli 1977 an den Rat des Kreises Riesa. Ein Duplikat schickt sie an das Innenministerium der DDR.

Die Berufung auf das Recht läuft ins Leere. Für die Behörden handelt es sich um ein „rechtswidriges Ersuchen“. Sie denken gar nicht daran, den Antrag zu bearbeiten. Stattdessen wirft die Stasi ihre Netze aus.

Eine Arbeitskollegin, die schon mal auf den kleinen Bert aufgepasst hat, lädt Kreuzer zu sich ein. Der Mann dieser Kollegin ist als GMS („Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit“) der Geheimpolizei zu Diensten. Unter dem Decknamen „Peter Turm“ verfasst er einen Bericht über den privaten Abend: „Zur Vorbereitung der Flucht sagte sie, dass vorher alles in ihrem Beisein durchgesprochen wurde. Sie selbst sollte sich auch beteiligen. Es wurde aber von ihr abgelehnt, da das Boot zu klein gewesen wäre. Sie wollte nämlich auch ihren Sohn mitnehmen…“ Weiter unten attestiert „Peter Turm“ seinem Gast „nur eine geringe Allgemeinbildung. Politische Gespräche kann man mit ihr nicht führen. Ich möchte einschätzen, dass die K. von ihren Eltern verzogen wurde.“

Arbeit, Wohnen, Freizeit – Auskundschafter sind überall. Das Überwachungssystem animiert zur Denunziation. „Es ist ihr anzumerken, dass sie nervlich sehr fertig ist. Durch meine Frau erfuhr ich, dass sie abends oft Spirituosen zu sich nimmt“, berichtet „Peter Turm“. „Ihr fehlt allmählich die Kraft, normale Dinge logisch zu erkennen. Aber eine illegale Handlung (Verlassen der DDR) hat sie nicht vor“, schreibt eine Freundin „Petra“. Ein Nachbar trägt als IM den Decknamen „Hermann“. Er will (am 31. 1. 1979) beobachtet haben, dass die unverheiratete 30-Jährige Herrenbesuch empfängt.

Die Behörden lassen Margit Kreuzer über ihren Antrag im Ungewissen. Mit dem Mut einer Verzweifelten beschwert sie sich beim Innenministerium. „Seit Monaten erhalte ich bei meinen wöchentlichen Nachfragen immer eigenartigere, unglaubwürdigere und vor allem jedes Mal andere banale Auskünfte“, schreibt Sie dem Minister Friedrich Dickel: „Wo bleibt denn die viel gepriesene Einhaltung von Recht und Gesetz in der DDR?“ Man antwortet, dass eine Genehmigung zur Übersiedlung in Riesa erteilt werden muss. Dort jedoch schiebt man die Entscheidung auf eine übergeordnete Stelle, ohne diese zu benennen. Niemand ist verantwortlich. Ein kafkaeskes Spiel mit Zuversicht und Angst des Antragstellers.

Beim Rat des Kreises ist ein linientreuer Genosse für die „rechtswidrigen Gesuche von DDR-Bürgern auf Übersiedlung in die BRD“ zuständig. IM Laso, so sagen die Akten, betrachtet es „als Ehre und Verpflichtung, die Genossen des MfS zu unterstützen“. Der IM teilt Margit Kreuzer am 19. Juni 1979 mit, dass ihr Gesuch zurückgewiesen wird. Begründung: Die Verlobung werde als nicht mehr existent gesehen, „da durch Hinweise von Personen aus dem Arbeits- und Wohnbereich bekannt wurde, dass sich in der Wohnung der Frau Kreuzer regelmäßig männliche Personen aufhalten und auch dort nächtigen“.

Die Dienststelle behauptet jetzt, eine „negativ-feindliche Grundhaltung zur Politik der DDR“ sei Margit Kreuzers „tatsächliches Motiv“. Leutnant Krosse, operativer MfS-Mitarbeiter in Riesa, winkt mit Berufsverbot: „Darf die K. mit ihrer negativen Einstellung zur DDR Kinder erziehen?“ Die Nünchritzerin wehrt sich. Sie arbeitet in der Krippe mit den Kleinsten unter drei Jahren: „Einjährige kann ich ja gar nicht ideologisch beeinflussen.“

Margit Kreuzer lässt sich nicht zermürben. 1981, nach vier Jahren des Wartens, beharrt sie darauf, sich ihren Wohnsitz frei wählen zu wollen. Immer wieder wird sie bei den Behörden vorstellig, fragt nach und kritisiert, dass ihr Telefon abgehört und ihre Post geöffnet wird. Dass Briefe, die sie abgeschickt hat, einfach verschwinden.

17. Juni 1981, drei Tage nach der Volkskammerwahl. In seinem Büro an der Lommatzscher Straße heckt Leutnant Jürgen Sämann einen perfiden Plan aus. Die Kreuzer soll gezwungen werden, für die Stasi zu arbeiten – mit folgender Lügengeschichte („Gesprächslegende“): Es gebe Hinweise, die als Nichtwählerin bekannte 32-Jährige habe andere zur Nichtteilnahme an der Wahl beeinflusst. Der Stasi liege die Aufzeichnung eines anonymen Anrufs vor. Eine „positive Wiederaufnahme ihres Ausreiseantrags“ hänge jetzt davon ab, dass sie diesen Anrufer identifiziert. „Dabei wird“, formuliert der Leutnant, „um ihre frauliche Ehre zu kitzeln, mitgeteilt, dass man sich gar nicht vorstellen könne, dass sie als hübsche und attraktive Frau eventuell Neider hat…“. Gedacht, getan. Am 23. Juni besuchen Leutnant Sämann und Oberleutnant Spick Margit Kreuzer in ihrer Wohnung und führen die eine Woche zuvor entworfene Inszenierung auf. Anonyme Anrufe seien „von den Sicherheitsorganen stets zu beachten“. Die Frau wird aufgefordert, zum Vorhalt - Beeinflussung zum Nichtwählen - eine schriftliche Erklärung zu fertigen, „was sie nach anfänglichem Zögern auch tat. Diese Erklärung wurde ihr diktiert“ (Bericht vom 24.6.). Die Geheimpolizisten diktieren Erklärungen zu Vergehen, die sie selbst erfunden haben. Sie spielen ihrem Opfer vor, dass nur das Sich-Erklären sein Anliegen positiv beeinflussen kann. Margit Kreuzer bestätigt ihre Bereitschaft, den Anrufer zu identifizieren.

Noch am 23. Juni legt die Stasi in Riesa eine Akte an, in der Margit Kreuzer als Vorlauf-IM geführt wird. Sie erhält den Decknamen „Angelika“. Major Siegfried Winkler, der Leiter der Kreisdienststelle, schreibt zur Begründung, dass Kreuzer „über Verbindungen und Kontakte zu bereits übergesiedelten Personen und Ersuchenden verfügt“, über die sie Informationen liefern könne: „Sie ist intelligent, ausgesprochen attraktiv, kontaktfreudig, nicht familiär gebunden.“

Eine Woche später tut Leutnant Sämann in Kreuzers Wohnung einen weiteren Schritt. „Entsprechend der Gesprächslegenden wurde ein anonymer Anruf zur Person fingiert und auf Band konserviert. Sie hörte dieses Band sehr aufmerksam ab. Dabei schüttelte sie mit dem Kopf. Sie könne die Stimme beim besten Willen nicht identifizieren.“

Für das nächste Gespräch schlagen die Geheimpolizisten einen Ausflug vor: „Sie solle sich hübsch anziehen. Man werde gemeinsam ein ordentliches Lokal aufsuchen. Sie solle sich über die finanzielle Seite keine Gedanken machen“ (Bericht vom 1. Juli).

7. Juli 1981, nachmittags, Großenhainer Straße. Margit Kreuzer steigt in einen gelb-schwarzen Lada (Kennzeichen RU 15-10), um mit den Offizieren Spick und Sämann nach Dresden zu fahren. Ziel ist das Restaurant „Szeged“. „Die Person hatte sich sehr geschmackvoll gekleidet und auch kosmetisch für dieses Treffen zurecht gemacht“, heißt es später: „Im Szeged wurde zu Abend gegessen, dazu Wein und Spirituosen getrunken. Die K. fragte mehrmals nach dem eigentlichen Grund dieses Treffens.“ Eine Antwort bekommt sie nicht. Nach einem Absacker in der Gaststätte „Altmarkt“ fährt das Trio gegen 22 Uhr zurück nach Riesa.

Der Ausflug ist von der Abteilung VIII/1a der Stasi heimlich fotografiert worden. Es wurden „Kompromate erarbeitet“, wie es im Geheimdienst-Jargon heißt: Gemeint sind Angriffspunkte, mit denen jemand zur Mitarbeit erpresst werden kann. Vier Fotos wandern in „Angelikas“ Akte, die suggerieren sollen, dass Kreuzer gut gelaunt mit der Stasi kooperiert hat.

Aber Margit Kreuzer knickt nicht ein. Mutig präsentiert sie ihre Erkenntnis, „dass der Sachverhalt betreffs des anonymen Anrufes fingiert worden“ sei. Hartnäckig bleibt sie bei ihrem Plan, die DDR zu verlassen. Schließlich ist es die Geheimpolizei, die im November 1981 abwinkt. Die Anwerbung wird abgebrochen. Leutnant Sämann beschließt am 1. Dezember, dass „aus Gründen der inneren Sicherheit des Organs die Ablage erfolgt“. Der IM-Vorlauf landet im Archiv.

Am gleichen Tag macht Oberst Böhm, Chef der Bezirksverwaltung in Dresden, den „Vorschlag zur Genehmigung der Übersiedlung aus politisch-operativen Gründen“. „Die Genannte stellte zunehmend Forderungen bezüglich des Termins ihrer Übersiedlung“, heißt es. Deshalb „wurde vom Ausbau des inoffiziellen Kontaktes aus Gründen der Geheimhaltung und Konspiration Abstand genommen“.

Nach sechs Jahren Leid und 23 Vorsprachen beim Rat des Kreises Riesa darf „Mecke“ Kreuzer am 1. Juli 1983 ausreisen.

Alle Teile dieser Serie finden Sie unter: www.szlink.de/stasi