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Die Geschichte einer Freundschaft

Eine Ungarin erinnert sich, wie sie vor 60 Jahren eine hiesige Studentin vom Institut für Lehrerbildung kennenlernte.

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© privat

Von Agnes Ufer

Großenhain. Während meiner Gymnasialjahre hatte ich die Möglichkeit, Deutsch zu lernen. Zwischen 1956 und 1958 wurde unser Mädchengymnasium in Jászberény/Ungarn in einem Institut für Lehrerbildung untergebracht. Der damalige Direktor hatte uns während der 56-er Revolution den Deutschunterricht vorgeschlagen, da die russische Sprache abgesetzt wurde. Nach der Niederschlagung der Revolution durften wir weiter Deutsch lernen – allerdings fakultativ.

Einmal hatte uns unser Direktor berichtet, dass er in Großenhain war bei Christian Klöber (1925 bis 2012), dem damaligen Leiter des Instituts für Lehrerbildung. Er hatte eine Liste mitgebracht, auf der Namen und Adressen von DDR-Studenten standen, die Briefpartnerschaften mit uns suchten. Wir haben sofort gewählt: Mir gefiel der Name Renate Radochla. Ich hatte großes Glück mit Renate; sie wurde eine angenehme, fleißige und treue Briefpartnerin. Es war eine gute Übung für uns, unsere Ausdrucksweise entwickelte sich, unsere Kenntnisse vertieften sich. Wir haben die Kultur und Bräuche des anderen Landes näher kennengelernt. Natürlich habe ich über ungarische Gewohnheiten und Bräuche geschrieben. Die Briefe von Renate habe ich zufällig bis heute bewahrt. Nun wird mir diese Zeit wieder lebendig.

Es gab damals Lehrermangel, man hat hier dieses Problem genauso gelöst wie in Ungarn, und zwar etwas „beschleunigt“. Lehrerstudenten mussten ein Jahr eher schon unterrichten und ihre Ausbildung später per Fernunterricht beenden.

Das Tempo unseres Lebens war anders, das Fernsehen war noch nicht in jedem Haushalt, wir gingen in die Bibliothek, und wir steckten unseren Köpfe mehr in Büchern.

Wir schickten uns Karten, die einen ganz besonderen Reiz verströmen und Zeugen einer anderen Kultur sind. Die weihnachtlichen Strohsterne, die handbemalten Ostereier zeigen eine Präzision, eine Gründlichkeit, die den Deutschen so charakterisierte.

Zu Weihnachten haben wir in Ungarn etwas Ähnliches: Die Strohengelchen, die wir aus dem Abfall der Maiskolben gebastelt hatten.

Den Fasching haben die deutschen Studenten in Großenhain ander begangen als wir. Sie haben sich ein Kostüm oder eine Maskerade ausgedacht. Renate hatte sich einmal als Rattenfänger kostümiert und nahm so an der Tanzveranstaltung teil. Am nächsten Tag brauchte sie nicht in die Schule zu gehen. Es kam vor, dass die ganze Klasse in Nachthemden oder Pyjamas auf den Straßen erschien – mit Schlafmützen und Schnullern im Mund. Sie holten dann ihren Lehrer, zwängten ihn in einen alten Kinderwagen und steckten eine Schnullerflasche in seine Hände. Ihr Klassenzimmer wurde faschingsmäßig geschmückt und überall dröhnte Musik, sogar in den Treppenhäusern. Es wurde alles auf den Kopf gestellt. Ich weiß nicht, ob so etwas unseren Lehrern gefallen hätte?

Renate schrieb mir, dass sie Praktika absolvieren müssen. Einmal ging sie in ein Jugendferienlager mit etwa 800 Jugendlichen. Sie sollte etwa auf 16 Kindern aufpassen. Berichtete über Kartoffeleinsätze in LPG, die immer im Herbst stattfanden. Öfter hatten sie sich bis zur Erschöpfung abgemüht, was sie nur durch das abendliche, fröhliche Zusammensein mit Kameraden ertragen konnten. Sie begeisterte sich für Budapest und hatte auch erwähnt, dass sie – wenn sie manchmal Dresden besucht – am liebsten weinen würde, so traurig sah diese bombardierte Stadt aus. 1963 hatte die DDR mit großen Energieproblemen zu kämpfen. Da konnten sie täglich nur eine Stunde Unterricht gewähren, damit die Hausaufgaben kontrolliert werden. Es war sehr kalt in den Schulen, unter 12 Grad, und sie hatten weder Kohle noch Brikett.

Meine Gymnasialjahre vergingen und aus Renate wurde eine Grundschullehrerin. Wir haben unseren Briefwechsel nicht abgebrochen. Im Sommer 1962 ergab sich eine Möglichkeit, uns endlich persönlich in Ungarn kennenzulernen. Ich rief viele Budapester Hotels an, bis ich gesagt bekam, dass Renate im Parkhotel untergebracht war. Dieses Treffen war eine Überraschung, weil wir fast gleich gekleidet waren, als wären wir Zwillinge und als hätten wir einen ähnlichen Geschmack. Wir haben Renate und ihren Freund mit feinen Wassermelonen beglückt, da diese Frucht in der DDR etwas Seltenes war. Wir hatten die Melone in der Badewanne temperiert, weil wir auch keinen Kühlschrank hatten und der alte Eisschrank nicht mehr in Betrieb war.

Diese Gelegenheiten festigten unsere Freundschaft, sodass ich im Folgejahr eine Einladung in die DDR erhalten hatte. Damals musste man noch vom Rat der Gemeinde ein Schreiben holen, in dem amtlich erklärt wurde, dass derjenige, der so eine Einladung ausspricht, für mich während meines Aufenthalts in der DDR sorgen wird. Etwa sechs Tage durfte ich mit meiner Freundin auch an die Ostsee fahren. In einer Gaststätte servierte man uns eine Flasche Jászberényer Riesling aus meiner Heimat! Seitdem habe ich nie wieder eine solche Flasche gesehen. Ich musste 1400 km wegfahren, um diesen ungarischen Wein zu Gesicht zu bekommen.