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Deutschlands größte Baustelle

In der Grube rollen Bohrer und Betonmischer, davor halten noch immer Gegner Protestwachen ab. Wie beim Berliner Flughafen explodieren auch bei Stuttgart 21 die Kosten und vieles verzögert sich.

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Von Ulf Mauder

In 56 Metern Höhe ist die Sicht frei auf Stuttgarts Zukunft und Schmerz zugleich. Vom Bahnhofsturm mit seiner Aussichtsplattform gucken Besucher herunter auf das Bahnprojekt Stuttgart 21, Deutschlands größte Baustelle. Und wohl auch Deutschlands umstrittenste Baustelle.

Die Zeiten der Massenproteste gegen das Projekt wie hier 2010 sind vorbei, seit beim Volksentscheid eine Mehrheit für den Bau von S21 stimmte.
Die Zeiten der Massenproteste gegen das Projekt wie hier 2010 sind vorbei, seit beim Volksentscheid eine Mehrheit für den Bau von S21 stimmte. © dpa
Unterdessen wachsen unter der Erde längst die Tunnel, ...
Unterdessen wachsen unter der Erde längst die Tunnel, ... © dpa
... überirdisch halten Stützen die ehemalige Postdirektion.
... überirdisch halten Stützen die ehemalige Postdirektion. © dpa

Wie eine offene Wunde klafft sie im Herzen der Landeshauptstadt, dort wo einst ein Teil der Parkanlagen im Schlossgarten lag. Bauzäune und Absperrungen machen das Leben in der Schwabenmetropole für Fußgänger zum Hindernislauf. Autofahrer der sechstgrößten deutschen Stadt stehen in langen Staus. Radfahrer suchen ein Durchkommen.

In der gigantischen Grube bauen Arbeiter am neuen Hauptbahnhof, der einmal tief unter der Erde liegen wird – anders als die heutige Halle. Bis zu zwölf Meter hohe Kelchstützen wachsen gerade aus dem Grubenboden. Es sind massige Trichter aus Beton und Eisen, die später das ebenerdige Bahnhofsdach tragen sollen. Durch Kuppeln aus Glas – die wie Seifenblasen auf dem Dach liegen – fällt dann einmal Tageslicht in die Bahnhofshalle unter der Erde.

So sieht es der Entwurf des Düsseldorfer Architekten Christoph Ingenhoven vor. Und so sehen Reisende in der fast 100 Jahre alten Halle des Bahnhofs von Paul Bonatz die Zukunft auf einem modernen Wandbild mit einer Computersimulation und der Aufschrift: „Die Zukunft liegt näher als Du denkst“.

Die Gegenwart wird jedoch nicht nur durch die Baustelle geprägt. Sie ist auch bestimmt durch eine ganz eigene Welt der Probleme: Stuttgart 21, kurz auch S21 genannt, wird massiv teurer als geplant. Und der Abschluss verzögert sich.

Seit 2010 wird am Bahnprojekt Stuttgart-Ulm gebaut. Und je länger es am Herzstück, dem Bahnhof, dauert, desto brennender plagt manche die Frage, ob sich der ganze Aufwand am Ende lohnt. Im kommenden Jahr soll der kathedralenartige Bonatz-Bau samt Bahnhofsturm schließen. Er wird zur neuen Empfangshalle umgebaut. Vier Menschen, die sich bisweilen auf dem Turm einen Überblick verschaffen, erzählen von ihrem Leben mit der Baustelle, von Sorgen und Hoffnungen.

Einer, der extra wegen S21 nach Baden-Württemberg kam, ist Michael Pradel. Auf der Plattform spricht der 45-Jährige von einer „echten Mammutaufgabe“. Der technische Projektleiter der Bahn zeigt den Kampfgeist eines ehemaligen Leistungssportlers. „Mein Ziel ist es, so qualitativ hochwertig und kostengünstig wie möglich zu bauen und am Schluss das rote Band der Sympathie zu durchschneiden“, sagt der frühere Ruderer der Junioren-Nationalmannschaft der DDR.

Pradel ist in der Nähe von Potsdam in Werder an der Havel zu Hause. Dort leben seine Frau und die zwei Söhne. Als ihn die Deutsche Bahn vor gut drei Jahren fragte, war ihm klar, dass es ein solches Angebot nur einmal im Leben gibt. Während viele Stuttgarter noch fluchen über den Dreck und darüber, dass die Baustelle sie im Alltag behindert, reicht seine Vorstellungskraft schon weit in die Zukunft.

Irgendwann sollen die Bürger sagen, dass es sich gelohnt habe, wünscht sich Pradel. „Die Leute, die heute zur Elbphilharmonie nach Hamburg pilgern, kommen dann in den Stuttgarter Hauptbahnhof, um die Architektur zu begutachten und sich daran zu erfreuen“, schwärmt er.

Seinen Arbeitstag beginnt Pradel meist um acht Uhr und beendet ihn 13 Stunden später. Zeit, um auch viele der Probleme anzugehen. Da ist der Widerstand der Gegner. Da sind die auf 8,2 Milliarden Euro fast verdoppelten Kosten. Und die Verzögerungen. Nicht wenige Stuttgarter befürchten, dass S21 wie der Flughafen Berlin-Brandenburg BER enden könnte: Der soll mit neun Jahren Verspätung 2020 den Betrieb aufnehmen – und ist mit 6,5 Milliarden Euro schon rund dreimal so teuer wie geplant.

Bereits seit den 1980ern ist im europäischen Verkehrswegeplan die Rede davon, den Sackbahnhof in eine Durchgangsstation umzuwandeln. Das geht nur unterirdisch. Reisezeiten sollen sich verkürzen. es wird weniger Lärm geben, Flächen sollen frei werden für Tausende von Wohnungen.

Aber bis S21 fertig ist, wird Pradel die Debatte um den Sinn des Ganzen nicht los. „Dass viele Stuttgart 21 immer im Zusammenhang mit der globalen Situation der DB sehen und sagen, da würden Milliarden versenkt, kann ich nicht teilen.“ Tatsächlich ist der Baufortschritt mit den vielen Tunneldurchbrüchen und Brücken längst unübersehbar.

Von der Turm-Plattform schaut Pradel auf die Straße, den Beginn der Fußgängerzone. Dort steht seit acht Jahren eine Mahnwache gegen S21. Wenn er als Bauleiter mit den Gegnern redet, hilft das aus seiner Sicht, manche Woge zu glätten. Aber ihm bleibt klar: „Ich werde die Kritiker nicht bekehren. Einige haben nach wie vor nicht das Ziel, den Bahnhof besser zu machen, sondern das Projekt zu verhindern.“

An der Mahnwache steht Doris Zilger. Die pensionierte Lehrerin erklärt als Stadtführerin die Sicht von außen auf die Baustelle. „Immer wieder kommt zuerst die Frage, ob ich für oder gegen das Projekt bin“, sagt die 67-Jährige. Sie bindet nicht jedem gleich auf die Nase, dass sie zu den Gegnern gehört. Sie macht etwa fünf Schichten pro Woche im Protestzelt.

Die sportliche Frau trägt das Abzeichen „Umstieg 21“ – eine kleine Hoffnung aus Metall, dass der Bahnhof mit seinen 16 Gleisen doch nicht komplett unter die Erde wandert.

Besonders Sicherheitsfragen lassen den S21-Wächtern wie Doris Zilger keine Ruhe: der Brandschutz im neuen Tiefbahnhof, die Neigung der Gleise, die Fluchtwege in den Tunneln, die Gefahr von Rissen an Gebäuden durch die Bauarbeiten.

„Wir können es nicht verhindern. Die Idee, dass die ganzen Gruppen, die dagegen sind, noch einen Stopp hinkriegen, die ist, glaube ich, vorbei“, sagt sie. Montags organisieren Stuttgarter Proteste mit oft Hunderten Teilnehmern. Viele Gegner sind mit dem Widerstand alt geworden.

Markenzeichen der Kritiker ist bis heute ein gelbes Schild mit der Aufschrift „Stuttgart 21“. Es ist wie bei einem Ortsausgang-Zeichen rot durchgestrichen. An Hausfassaden und Autos haften die Aufkleber. „Hier wird etwas gebaut, was die Stadt nicht braucht“, sagt Zilger.

Ihr fällt vieles ein, was die Stadt und ihre rund 620 000 Einwohner eher nötig hätten: die Tieferlegung der Bundesstraße 14 zum Beispiel. Eine Kulturmeile soll hier mal entstehen. Doch noch zerschneidet die vielspurige Konrad-Adenauer-Straße das Viertel mit dem Staatstheater, der Staatsgalerie und anderen Einrichtungen.

„Es wird so viel ausgebremst durch Stuttgart 21“, klagt Zilger. Die Oper braucht eine Sanierung, einen Ausweichspielort. Bauen will die Stadt auch ein neues Konzerthaus und ein neues Völkerkundemuseum. Doch viele Flächen sind auf Jahre wegen S21 blockiert.

Das Bahnprojekt sieht Zilger als Symbol für einen Größenwahn im Baugeschäft. Nach dem Motto „Stuttgart 21 ist überall“ solidarisierten sich die Schwaben zuletzt mit den Baumschützern im Hambacher Forst gegen den Kohleabbau. Überhaupt pflegen die S21-Gegner den Ruf Stuttgarts als Hochburg des Bürgerprotests: „Wenn es eine Demo gibt gegen Feinstaub, dann sind wir auch dabei.“

Noch, sagt die Seniorin, kriegten sie die Mahnwache mit je zwei Freiwilligen gerade so hin. Tag und Nacht. 365 Tage. „Wir sind 200 Leute auf der Liste, viele über 60 und 70“, erzählt die dreifache Mutter. Doch: „Die Jüngeren konzentrieren sich nun eher auf die Gestaltung ihres Lebens.“

Mit der Baustelle ist Stuttgart, die Stadt von Daimler, Porsche und Bosch, noch internationaler geworden. Aus über 20 Nationen kommen die Arbeiter des Projekts: Eisenflechter aus der Türkei, Tunnelbauer aus Österreich, Poliere aus Polen. Rund 6 000 Arbeiter sind auf den etwa 30 Einzelbaustellen beschäftigt.

Nur wenige begleiten das Projekt so lange wie Peter Morhard. Der Beamte kam vor 17 Jahren von der Vertretung des Landes in Berlin in die Projektgruppe. „Damals ging es zwar noch lange nicht mit dem Bauen los. Trotzdem war das Projekt mit seiner Rahmenvereinbarung von 1995 schon ziemlich alt“, erinnert sich der 53-Jährige.

Immer wieder muss er als Leiter des Referats „Bahnprojekt Stuttgart-Ulm“ Briefe von Bürgern und Abgeordneten beantworten. Ihm ist klar, dass es bei Großvorhaben Proteste etwa gegen Kosten gibt. „Mich hat aber gewundert, mit welcher Emotionalität manche Menschen reagieren. Es ist doch nur ein Verkehrsprojekt“, meint er.

Als S21-Veteran hat er unter Regierungen erst mit schwarzer, nun mit grüner Führung gedient. Beim Machtwechsel 2011 änderte sich für den parteilosen Ministerialbeamten alles: „Da ging es auf einmal total in die Gegenrichtung.“ Von einer Glorifizierung unter der CDU zur Gegnerschaft unter den Grünen. Schließlich war eine Mehrheit der Bürger bei einer Volksabstimmung doch für den Bau.

Trotzdem ist sich Morhard sicher, dass es keine Ruhe geben wird. „Es ist paradox, dass wir in Stuttgart im Grunde eine Eidechsenplage haben. Trotzdem beschäftigen wir uns viel damit, die Tiere umzusiedeln.“ Die Bahn sei verpflichtet, die EU-Gesetze ernst zu nehmen. „Hier zwingt der Gesetzgeber aber an der falschen Stelle, einen wahnsinnigen Aufwand zu betreiben, ohne dass die Umwelt etwas davon hat.“

Etwa 6 000 Mauereidechsen leben auf einem Gelände in Stuttgart-Untertürkheim, wo ein Abstellbahnhof von S21 entstehen soll. Naturschützer warnen davor, die geschützten Tiere zu töten. Die Projektpartner hingegen hoffen wegen der großen Population auf eine Ausnahme, um das teure und zeitraubende Umsiedeln der Reptilien zu vermeiden. (dpa)