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„Deutschland lebt quasi im Idealzustand“

Ökonomisch könne es uns kaum besser gehen, sagt DIW-Forscher Claus Michelsen. Woher kommt die Unzufriedenheit?

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© dpa/Andres Benedicto

Herr Michelsen, es gibt kaum noch Arbeitslosigkeit, der Staat erwirtschaftet Überschüsse. Ökonomisch erlebt die Bundesrepublik gerade goldene Zeiten. Oder täuscht der Eindruck?

Claus Michelsen (37) ist neuer Konjunktur-Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Claus Michelsen (37) ist neuer Konjunktur-Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. © DIW

Wir sind tatsächlich in einer sehr komfortablen Situation. Seit dem Fall der Mauer war die Lage nie so gut wie jetzt. Unseren Prognosen zufolge sinkt die Arbeitslosigkeit 2019 unter fünf Prozent. In diesem und nächstem Jahr erzielt der Staat Überschüsse von jeweils etwa 60 Milliarden Euro. Aber nicht alle Bürger profitieren von der Entwicklung. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Aufgaben anzupacken, die liegen geblieben sind.

Gab es hierzulande schon mal eine ähnliche Wohlstandsphase?

Während des Wirtschaftswunders in den 1950er- bis 1960er-Jahren. Es ist schon erstaunlich, dass wir jetzt einen Aufschwung erleben, der vor acht Jahren begann und noch einige Zeit anhalten dürfte. Stetiges Wachstum ohne größere Schwankungen – das ist quasi der Idealzustand aus konjunkturpolitischer Sicht.

Und wie lange wird das noch so weitergehen?

Bis 2020, nehmen wir an. Danach dürften sich allmählich mehr Probleme bemerkbar machen, die mit dem demografischen Wandel zusammenhängen. Die Arbeitskräfte könnten knapper werden, was das Wachstum einschränkt.

Dennoch herrscht Unruhe im Land. Welche sozialen und ökonomischen Ursachen sehen Sie dafür?

Der Wohlstand kommt nicht allen zugute. Die 20 Prozent der Bevölkerung mit den niedrigsten Einkommen haben seit der Wende nicht profitiert. Sie verdienen heute weniger als damals. Auch ist der Staat seinen Aufgaben nicht so nachgekommen, wie er es hätte tun sollen. Er hat Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Freibäder und Straßen vernachlässigt, um nur einige Beispiele zu nennen.

Aber jetzt haben wir das Geld, um Versäumtes aufzuholen und alles wieder in Schuss zu bringen?

Ja. Wir müssen und können die öffentliche Infrastruktur erneuern. Das gilt besonders für die Städte und Gemeinden. Der Bund sollte ihnen mehr Mittel dafür zur Verfügung stellen. Und es ist auch an der Zeit, die unteren Einkommensschichten zu entlasten. Die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt zu senken, kostet etwa zwölf Milliarden Euro und würde besonders den Bürgern helfen, die knapp bei Kasse sind.

Das Gespräch führte Hannes Koch.