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Der unbekannte Superathlet

Rudolf Harbig: Der Dresdner wurde mit einem fantastischen Weltrekord über 800 Meter berühmt. Doch das Leben des Wunderläufers verlief nicht immer so geradlinig.

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Ulf Mallek

Die Menschen standen traubenförmig um die Radios, die damals „Volksempfänger“ hießen. Ihre Gesichter waren angespannt, sie drückten die Daumen fest zusammen. „Rudi, du schaffst es“, riefen sie und fassten sich an den Händen. Und Rudi schaffte es. Der kleine, drahtige Wunderläufer aus Dresden schlug am 15. Juli 1939 im Mailänder Stadion Arena Cifica den italienischen Mitfavoriten Mario Lanzi über 800 Meter. Seine Zeit: 1:46,6Minuten. Fast zwei Sekunden besser als der bisherige Weltrekord. Diese Zeit war so fantastisch, dass sie damals kaum glaubhaft war. Die Nachrichtenagenturen verbreiteten sie sicherheitshalber in Buchstaben: Eins-sechs-und-vierzig-sechs.

Als Rudolf Harbig zwei Tage später mit dem Schnellzug aus Mailand nach Dresden zurückkehrte, wartete am Hauptbahnhof fast die halbe Stadt auf ihn. Tausende wollten ihren Rudi hochleben lassen. Der Wunderläufer von der Elbe ist einen unglaublichen Weltrekord gelaufen. Er sollte 16 Jahre lang Bestand haben. Die Menschen am Hauptbahnhof jubelten: „Rudi, du bist der Größte, unser Held.“ Ein Sportler, der die Herzen der Menschen erreicht hat. Ein bescheidener Mann aus dem Arbeiterviertel Wilder Mann, Gasableser bei den Stadtwerken Drewag, der ihnen zeigte, was man mit Disziplin, Fleiß und Willenskraft erreichen kann. Harbig stellte 1939 noch einen Weltrekord über 400 Meter auf und zwei Jahre später auch einen über 1000 Meter. Er ist bislang der einzige Athlet in der Geschichte, der diese drei Weltrekorde gleichzeitig hielt.

Der Niedergang des Sports im Krieg hat die Haltbarkeit von Harbigs Rekorden sicher begünstigt. Dennoch sind sie sportliche Glanzleistungen, und eigentlich sollte Rudolf Harbig als größter Sportler der Stadt Dresden verehrt werden. Harbig ist heute aber nur über 50-jährigen Insidern bekannt. Die Jungen können mit dem Namen nicht viel anfangen. Daran ändert auch der Schriftzug auf dem neuen Stadiondach in Dresden nichts, in dem Harbig am 24. Mai 1941 einen 1000-Meter-Weltrekord lief.

Harbig, der unbekannte Superathlet? Vergessen die Menschen heute so schnell? Harbigs einzige Tochter Ulrike, die heute in Augsburg lebt und das Erbe ihres Vaters hütet, macht den Zeitgeist dafür verantwortlich. „Wir kennen heute keine Idole und Vorbilder mehr“, sagt sie. „Mein Vater war den jungen Leuten ein Vorbild für Fairness, Sportgeist und Kameradschaft. Heute ist Cleverness gefragt.“ Tatsächlich wuchs Harbig als eines von fünf Kindern in einer Arbeiterfamilie auf. Geboren wurde er am 8. November 1913 in Dresden-Trachau. Der Vater, ein Heizer, kehrte aus dem Krieg heim und war lange Zeit arbeitslos. Die Mutter rackerte unermüdlich. Rudi hatte Freude an der Bewegung, lief gern durch den nahen Wald, spielte Ball, aber einen künftigen Wunderläufer erkannte damals niemand in ihm.

Vielleicht war es die Reichswehr, zu der sich Harbig meldete, weil er keinen Job fand, die seine sportlichen Talente ausprägte. Das Militär hat zu allen Zeiten Freude an schnellen Läufern. Jedenfalls fiel der für einen Spitzensportler kleine Mann (1,74 Meter bei einem Wettkampfgewicht von 65 Kilogramm) 1934 dem damaligen Reichstrainer Waitzer auf. Deutschland bereitete sich auf die Olympischen Spiele in Berlin vor, Hitler wollte mit Erfolgen glänzen. Doch das vielversprechende Talent Harbig, ein Mitfavorit, enttäuschte. Sechster Platz in seiner Paradedisziplin 800Meter. War er übertrainiert? Oder krank? Nervlich am Ende? Als Schlussläufer in der Staffel reichte es später noch für Bronze.

Drei Jahre danach in Mailand hat er gezeigt, was er wirklich ist: der beste Mittelstreckenläufer der Welt. „Ich werde heute noch rot“, sagte der französische Weltklasseläufer Marcel Hansenne, „weil ich beim Eintreffen der unbegreiflichen Meldung aus Mailand zunächst an nazistisch-faschistische Propaganda dachte.“ Einen Tag später schlug Harbig seinen Gegner Lanzi auch über 400 Meter, wenn auch sehr knapp.

Die Frage, inwieweit sich Harbig als Aushängeschild für ein verbrecherisches Regime benutzen ließ, wird unterschiedlich beantwortet. Ein Nazi war er nie, sagt seine Tochter Ulrike. Er lebte in seiner Zeit, war beliebt, sehr humorvoll und schlagfertig. Unlängst ist eine Karteikarte aus der ehemaligen NSDAP-Parteizentrale aufgetaucht. Auf ihr steht der Name Rudolf Harbig mit der Registriernummer 5878331. Als Eintrittsdatum ist der 1. Mai 1937 benannt. Zwischen dem 1.Mai 1933 und dem 1.Mai 1937 herrschte eine Eintrittssperre bei der NSDAP, die sich so vor Karrieristen schützen wollte. Auch Wehrmachtsangehörige durften nicht eintreten. Ansonsten konnten normale Mitglieder immer zum 1. Mai, Hitlerjungen zum 20. April (Hitlers Geburtstag) und ganz Verdienstvolle am 30. Januar oder 9. November einen Antrag abgeben. 1945 war jeder fünfte Deutsche Mitglied der Partei.

Auch vom Kabarettisten Dieter Hildebrandt, den SPD-Politikern Erhard Eppler und Horst Ehmke oder den Autoren Martin Walser und Siegfried Lenz liegen im Bundesarchiv NSDAP-Mitgliedskarten. Die meisten von ihnen bestreiten jedoch eine wissentliche Mitgliedschaft.

Nach seinem letzten glanzvollen Sieg 1941 auf der damaligen Ilgen-Kampfbahn in Dresden wurde es ruhig um Harbig. Der Krieg verschonte ihn nicht. Er war Fallschirmjäger an der Ostfront und wurde mehrmals verwundet. 1941 heiratete er seine Frau Gerda, zwei Jahre später kam seine Tochter Ulrike zur Welt. Er hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Am 5.März 1944 fiel Harbig als Oberfeldwebel bei Kämpfen im Raum Olchowez bei Kirowograd in der Ukraine. Nach seinem Tod erhielten die Stadien in Dresden, Neustrelitz, Grünstadt, Bruchköbel und Borna seinen Namen. Mehrere Straßen und eine Diesellokomotive wurden nach ihm benannt . Seit 1950 vergibt der Deutsche Leichtathletikverband jährlich einen Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis.

In Dresden flammt immer mal wieder eine Diskussion im Expertenkreis auf: Weshalb hat der Wunderläufer noch keine Ehrentafel oder Erinnerungsecke im Stadtmuseum?