Merken

Der Puls des Hauptbahnhofs

In den Ferien begegnen sich an Dresdens größtem Zughalt Menschen aus aller Welt. Manche sogar aus anderen Epochen.

Teilen
Folgen
© Sven Ellger

Von Franziska Klemenz

Die Fahnen fiebern immer noch. Wie ein hängendes Blumenbeet strecken sie sich entlang der Empore über die Bahnhofshalle. 33 Flaggen – für jeden Teilnehmer der Fußball-WM eine, für Deutschland zwei. Jede trägt ein Stück fremder Kultur in den Hauptbahnhof: die Sonne Argentiniens, das Schwert Saudi-Arabiens, den Schlangen-verschlingenden Adler Mexikos. Sie schweben über den Köpfen, als wollten sie an den Rest der Welt erinnern. Unter ihnen fahren die Züge ein – und bringen den Rest der Welt nach Dresden.

Jorge Gerhard (67) und und Ehefrau Maria Pia (61) sind aus Uruguay angereist, um Städte und ihre Familie zu sehen.
Jorge Gerhard (67) und und Ehefrau Maria Pia (61) sind aus Uruguay angereist, um Städte und ihre Familie zu sehen. © Sven Ellger
Bart (19) und Pim (21, v.l.) kommen aus Groningen in Holland. Sie machen eine neuntägige Deutschland-Tour.
Bart (19) und Pim (21, v.l.) kommen aus Groningen in Holland. Sie machen eine neuntägige Deutschland-Tour. © Sven Ellger
Hamidulla a Sadadi, Paketbote aus Magdeburg, hat in Dresden Freunde besucht.
Hamidulla a Sadadi, Paketbote aus Magdeburg, hat in Dresden Freunde besucht. © Sven Ellger
Daniel Gleißberg und Jessica Rehm wohnen in Dresden. Sie kommen nicht zum Reisen an den Bahnhof.
Daniel Gleißberg und Jessica Rehm wohnen in Dresden. Sie kommen nicht zum Reisen an den Bahnhof. © Sven Ellger

Aus Uruguay und Magdeburg

64 500 Reisende und Besucher sieht der Dresdner Hauptbahnhof im Durchschnitt pro Tag; zur Ferienzeit sind es besonders viele. Wie eine Welle, die Sand an den Strand trägt, rieseln die Menschen aus den Zügen, strömen in den Hauptbahnhof. Oder warten dort. So wie Hamidulla a Sadadi, Paketbote aus Magdeburg, der ausnahmsweise frei hat. „Ich habe hier Freunde besucht“, sagt der Afghane. „Hat mir sehr gefallen, Dresden.“ Der 21-Jährige sitzt unter einer geschwungenen Säule aus quadratischen Schokoladentafeln in Mutanten-Größe, isst einen Burger, wartet grinsend vor sich hin. Draußen möchten wenige warten, Tropfen prasseln auf die stahldurchwobene Glaskuppel über der Halle. „Dem Bahnbetrieb tut es sehr gut, dass es endlich regnet. Immer wieder kam es wegen Böschungsbränden in den letzten Tagen zu Verspätungen“, sagt Sylvia Möschwitzer, Mitarbeiterin im Bahnhofsmanagement. Die Ferien machen sich für sie und ihre Kollegen bemerkbar. „Wir haben sehr viele Gruppen, Familien; die Menschen sind viel entspannter als sonst.“ Dresden, sagt die 59-Jährige, sei kein klassischer Umsteigebahnhof. „Die meisten bleiben hier.“

So wie Jorge Gerhard und Maria Pia, deren Zuhause mehr als 11 000 Kilometer weit von Dresden entfernt liegt. Das Ehepaar ist aus Uruguay nach Deutschland gereist. „Ein bisschen Familie, ein bisschen Kirche“, sagt Jorge Gerhard, der in Uruguay als Pastor arbeitet. „In Braunschweig haben wir unseren Sohn besucht, jetzt reisen wir herum. Wien, Berlin, Stuttgart, Schweiz, Prag – und die nächsten Tage Dresden.“

Die beiden winken und steuern zum Ausgang, die Neugierde wiegt stärker als die Abneigung vor dem Regen. Ein Schirm mit zwei dünnen Beinchen schiebt sich durch die Tür, ein kleiner Junge kriecht hervor und grinst. Auf der gegenüberliegenden Seite, zur bayerischen Straße hinaus, haben sich die Menschen gartenzaunförmig entlang der Wand gereiht, um Schutz vor der Nässe zu suchen. Ein Dynamo-Schal saugt sich langsam mit dem Wasser auf dem Boden voll, er umhüllt einen Kleintier-Käfig ohne Insassen. „Wir haben Snowball da rausgenommen, damit er nicht so nass wird“, sagt Kevin Gaudich, ein nicht allzu großer Mann, der genauso weiß gekleidet ist wie sein Albino-Meerschweinchen Snowball. Der 21-Jährige zieht von Dresden zu seiner Freundin Wenke ins Erzgebirge, die beiden holen Snowball mit dem Zug.

„Ich habe schon Freunde mit Auto, aber die haben mir den Vogel gezeigt, als ich gesagt habe, dass sie damit ein Meerschweinchen fahren sollen“, sagt er und lacht. Snowball lugt aus einem kleinen Loch einer Transportschale, Wenke hat einen Kissenbezug darum gebunden. „Er muss noch eine Weile aushalten, wir haben unseren Zug nach Leipzig verpasst“, sagt Kevin. Sie haben Glück, unter den täglich 540 Zughalten am Hauptbahnhof werden noch einige nach Leipzig fahren.

Das gleiche Ziel haben Pim und Bart im Visier. Die beiden Holländer tropfen. Sie warten lieber im Inneren. Berts Blick haftet an der Scheibe einer Miniatur-Eisenbahn, seine Augen folgen den Runden der blinkenden Züge. Noch eine Münze einwerfen, noch eine Runde drehen. „Wir nutzen unsere Ferien für einen neuntägigen Trip durch Deutschland, nach Leipzig fahren wir nach Berlin“, erklärt Pim. „Ich war schon früher in Dresden. Die Mischung aus Neu und Alt finde ich toll. Diesmal war nur bisschen wenig Wasser in der Elbe, sonst sieht es noch schöner aus.“ Die beiden prüfen ihre Uhren, allmählich wird es Zeit für den großen Zug.

Fast etwas neidisch gucken die Menschen, die es noch überhaupt nicht eilig haben müssen. Eine ganze Reihe Köpfe schwenkt zur Seite, dann wieder in die Luft. Warten will gelernt sein. Oder geübt. Tom und Helle machen es vor: mit einem Bier in der Hand. „Wir waren hier bei einem Kumpel, jetzt geht‘s zurück nach Berlin und nach München“, sagt Helle, ein grinsender Mann Anfang 30 mit Comic-Shirt und Dreadlocks.

Verkleidet zum Frühstücken

Der Bahnhof, ein Ort der Zwischen-Station, des Ankommens, Abreisens und Wartens. Und doch noch ein bisschen mehr: Eine Ecke weiter, wo es ruhiger wird, wo der Bäcker der Nachbar des Sandwichladens ist, sitzen Jessica Rehm und Daniel Gleißberg auf Hochstühlen und trinken Kaffee. Dass ihre Namen keine Adelstitel enthalten, ist die erste Überraschung. Beide tragen mittelalterliche Gewänder mit bodenlangen Mänteln; es ist ihre Standard-Kleidung, auch zur Uni. Beide studieren Medieninformatik in Dresden. Und haben nicht vor, zu verreisen. „Wir kommen hier regelmäßig zum Frühstück her“, erzählt Jessica vergnügt. „Zuhause haben wir keinen Fernseher, hier laufen die Nachrichten auf Bildschirmen und man kann Leute angucken.“