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Der letzte Wille

Ein Mann aus Possendorf liegt im Krankenhaus im Sterben. Die Ärzte entlassen ihn nicht. Der Sohn kann das bis heute nicht fassen.

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© Karl-Ludwig Oberthür

Von Annett Heyse

Possendorf. Die weißen Lilien blühen immer noch kräftig. „Die hat eine Frau aus dem Dorf vor einer Woche hingestellt“, sagt Torsten Leupold und rückt einen Kranz auf dem Grab zurecht. Auf den weißen Schleifen steht ein letzter Gruß an den Stiefvater. Er starb Ende Juli in der Dresdner Uniklinik, allein und weit weg von seinem Zuhause in Possendorf. Dabei wollte er so gerne heim – um dort zu sterben. „Wir haben ein Haus, einen Garten und Katzen. Er hätte doch seine letzten Tage hier verbringen können. Dass ich ihm diesen Wunsch nicht erfüllen konnte, bohrt in mir“, sagt Leupold. Dabei habe er alles versucht, den Stiefvater nach Hause zu holen.

Er war Handwerker. Im Frühjahr dieses Jahres macht der Körper nicht mehr mit. Der Senior, 81 Jahre alt, bekommt Schmerzen in den Beinen, kann bald nicht mehr laufen. Nachdem er, von Ehefrau und Stiefsohn versorgt, schon 14 Tage das Bett gehütet hat, kommt er zu einer Untersuchung ins Krankenhaus Dippoldiswalde. Dort diagnostizieren die Ärzte einen Tumor in der Niere, der bereits in die Wirbelsäule ausgestrahlt hat – daher die Lähmung in den Beinen.

Der Patient wird Ende Mai in das Universitätsklinikum Dresden überwiesen. Dort finden weitere Untersuchungen statt. Die Rede ist zunächst von einer Chemotherapie, eventuell auch von einem operativen Eingriff. Doch als alle Untersuchungsergebnisse vorliegen, müssen die Ärzte passen. „Als ich fragte ‚Wie lange noch?‘, hieß es: ‚Bis zu einem Jahr.‘“, erinnert sich Torsten Leupold. Er macht sich über die baldige Heimkehr des Stiefvaters Gedanken und darüber, wie der die Pflege organisiert bekommt.

Doch der Patient wird nicht entlassen, sondern Ende Juni in die Palliativstation des Universitätsklinikums verlegt. Als Torsten Leupold zum ersten Mal zu Besuch kommt, ist er verblüfft. „Mein Stiefvater saß im Bett, konnte essen und trinken, war geistig fit. Es ging ihm halbwegs gut und er langweilte sich.“ Immer wieder habe der Senior gefragt, wann er endlich nach Hause dürfe. Doch die Ärzte hätten gezögert.

Palliativstationen sind Einrichtungen für todkranke Menschen. Ärzte, Pfleger, Physiotherapeuten, Psychologen, Seelsorger und Sozialarbeiter sorgen für eine umfassende Betreuung der Patienten. Sie sind geschult, mit den körperlichen und seelischen Symptomen der Sterbenden umzugehen. Doch Torsten Leupold und wohl auch sein Stiefvater rechnen nicht mit dem baldigen Tod. Anfang Juli hält sich der Possendorfer immer noch in der Palliativstation auf. „Jedes Mal, wenn ich auf Besuch kam, sagte er mir, er wolle nach Hause“, berichtet der Stiefsohn.

Die Klinik bittet um Verständnis: Wegen der ärztlichen Schweigepflicht dürfe man nicht über den Fall reden. Sagen könne man nur Grundsätzliches. „Natürlich wird keiner gegen seinen Willen auf eine Palliativstation eingewiesen. Alles erfolgt in Abstimmung mit dem einwilligungsfähigen Patienten“, teilt Annechristin Bonß von der Pressestelle des Klinikums mit. Auch sei eine Entlassung aus der Palliativstation möglich. „Wir orientieren uns primär an den Wünschen des Patienten.“

Allerdings sehen sich die Ärzte in der Pflicht, bestimmte Umstände im Privathaushalt zuvor abzuklopfen. „Wir haben eine gewisse Verantwortung, dass wir einen schwer kranken Menschen in eine Umgebung entlassen, die der Aufgabe gewachsen ist“, erklärt Kliniksprecherin Bonß. Hierzu gehöre die Kontaktierung des Hausarztes mit der Bitte um seine Einschätzung. „Hier erhalten wir oft wichtige Hinweise über die Tragfähigkeit des sozialen Systems im Umfeld des Patienten, die häuslichen Zustände und die Belastbarkeit der Angehörigen.“

Im Falle des Possendorfers raten die Ärzte zu einer Verlegung in ein Hospiz. Leupold spricht mit den Pflegern und Ärzten, versichert, er werde die Betreuung des Stiefvaters mit Unterstützung eines Pflegedienstes hinbekommen. „Eine Ärztin sagte mir ins Gesicht, sie traue mir das nicht zu“, erinnert sich Leupold an eines der Gespräche. Zudem zögert seine Mutter, die zu dem Zeitpunkt selbst gesundheitlich angeschlagen ist. Sie plädiert für die Verlegung des Ehemannes in das Hospiz.

Patient und Ärzte, Stiefvater und Stiefsohn, Ehemann und Ehefrau – und das alles angesichts des nahendes Todes, die Gemengelage war wohl schwierig. Der Stiefsohn jedenfalls hat das Gefühl, sein Stiefvater werde von den Ärzten bevormundet. „Mir wurden sogar finanzielle Motive unterstellt. Dabei war es mir eine Herzenssache, ihn nach Hause zu holen.“

Warum wurde der Patient nicht entlassen? Besprach er mit den Ärzten in Abwesenheit der Familie etwas anderes? Hatten die Mediziner Bedenken, ob die Pflege zu Hause tatsächlich gewährleistet werden könnte? Die Familie lebt in einfachen Verhältnissen zusammen. In dem alten Possendorfer Handwerkerhäuschen führt eine steile, enge Treppe zu den Wohnräumen in der ersten Etage.

Das Ringen um die richtige Entscheidung, das Hin und Her zwischen Ärzten, Pflegern und Angehörigen – immer wieder ist dies Gesprächsthema bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). „Grundsätzlich ist es in diesen Fällen so, dass der Patient selbstbestimmt eine Behandlung abbrechen oder beenden kann“, erklärt UPD-Juristin Sandra Szabo. Dies gelte auch dann, wenn die vorzeitige Beendigung einer Behandlung unter Umständen dazu führen würde, dass sich das Leben verkürzt oder die gesundheitliche Situation akut verschlechtert.

Als Torsten Leupold seinen Stiefvater am 12. Juli besucht, hat er eine Erklärung mitgebracht, die der Rentner unterschreibt. Bei der Ausformulierung hat sich die Familie Rat bei einem Rechtsanwalt geholt. In dem Papier, das der Sächsischen Zeitung vorliegt, erklärt der Stiefvater, dass er über seinen Gesundheitszustand informiert sei. Er habe dennoch den ausdrücklichen Wunsch, nach Hause zurückzukehren. „Ich bitte deshalb, diesem meinem Willen zu entsprechen“, heißt es in dem halbseitigen Schriftstück, das der Senior unterzeichnet und in dem er sich für die Betreuung im Universitätsklinikum bedankt. „Der Patientenwille ist seitens der Ärzteschaft grundsätzlich zu beachten und auch zu respektieren. Eine Verpflichtung der Ärzte, den Patientenwillen zu achten und zu respektieren, ergibt sich im Übrigen aus dem ärztlichen Gelöbnis sowie der Musterberufsordnung“, erläutert Patientenberaterin Szabo. Entlassen wird der Mann aus Possendorf trotzdem nicht.

Sein Stiefsohn wendet sich per Fax am 18. Juli ans Betreuungsgericht des Amtsgerichts Dresden. Er bittet um Unterstützung. Schon einen Tag später kommt ein Richter in die Palliativstation. Torsten Leupold trifft den Mann eher zufällig, weil er gerade auf Besuch beim Stiefvater ist. „Aber der Richter machte mir keine Hoffnung.“ Ein offizielles Schreiben über den Vorgang mit Aktenkennzeichen vom Gericht hat die Familie bis heute nicht.

Stattdessen machen sich die Mediziner wohl Sorgen um die Zustände im Possendorfer Haushalt. Als eine Ärztin die Frau des todkranken Mannes trotz mehrerer Versuche nicht ans Telefon bekommt, löst sie einen Alarm in der Rettungsleitstelle aus. Kurz darauf stehen vor dem Haus in Possendorf ein Notarzt, ein Krankenwagen, zwei Feuerwehren und ein Polizeiauto. Die Retter stürmen die Wohnung – und finden die Bewohnerin wohlbehalten vor. Die schwerhörige Frau hatte das Telefonklingeln schlicht nicht bemerkt.

Es ist der Zeitpunkt, an dem sich der Zustand des Patienten in der Uniklinik verschlechtert. Zwei Tage, nachdem der Richter da war, verweigert der Possendorfer Essen und Trinken. Ist es ein Protest oder ist es der Krebs? „Ich denke, mein Stiefvater hat aufgegeben. Bis dahin ging es ihm einigermaßen“, berichtet Torsten Leupold. Er kann nur noch zusehen, wie die Krankheit die Oberhand gewinnt. Am 28. Juli stirbt der Handwerker.

Torsten Leupold schaut noch einmal auf das Grab. „Schöne Blumen“, sagt er und zupft die Lilien zurecht. Den Tod könne er akzeptieren, sagt er dann. „Aber das ganze Drumherum macht mich fertig. Da ist es doch leichter, aus dem Knast zu kommen, als aus einer Palliativstation zu dürfen.“ Die Uniklinik teilt mit, dass etwa 50 Prozent der Patienten einer Palliativstation dort auch versterben. Die andere Hälfte wird entlassen – entweder nach Hause oder beispielsweise in ein Pflegeheim oder Hospiz.