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Der letzte Gipfel

70 Jahre lang erkletterte Manfred Rieger die Felsen der Sächsischen Schweiz – und blieb doch immer auf dem Boden.

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Von Henry Berndt

Ganz tief im Herzen steht er immer noch immer auf dem Fels. Den Wind in den Haaren, das Seil um die Schultern, die Karabiner an der Hüfte. Doch es sind nur noch Erinnerungen und eine Handvoll Fotos. 70 Jahre lang erkletterte Manfred Rieger die Felsen der Sächsischen Schweiz. „Die schönsten, größten und höchsten habe ich alle bestiegen“, sagt er. Seinen letzten Gipfel erreichte er vor fünf Jahren – im Alter von 85 Jahren. Die Kleine und Große Herkulessäule im Bielatal sollten es sein. Er stand oben, atmete noch einmal tief durch, und dann war Schluss. Einfach so.

Am Fuß der Winterbergbarbarine genoss Manfred Rieger (l.) mit Bergfreund Eddl die Natur.
Am Fuß der Winterbergbarbarine genoss Manfred Rieger (l.) mit Bergfreund Eddl die Natur.
1954 heiratete er Brigitte.
1954 heiratete er Brigitte.

Noch immer hat Manfred Rieger einen unheimlich festen Händedruck. Die Kraft in den Fingern ist noch da. In seiner Wohnung hört er die Schüler der Internationalen Schule auf dem Pausenhof spielen. „Die stören mich überhaupt nicht“, sagt er. „Da ist es wenigstens ein bissel lebendig“. Seit seine Frau Brigitte vor anderthalb Jahren starb, lebt er allein hier. Auf dem Balkon stecken jetzt Kunstblumen in der Erde der Blumenkästen. Blumen sind nicht so seins.

An einem Garderobenhaken im Flur hängt heute noch ein Seil. Es erinnert ihn an einen besonders riskanten Aufstieg vor 60 Jahren. Kaum einer der Kameraden von damals lebt heute noch. Allein im vergangenen Jahr starben zwei seiner Freunde aus der Klettergruppe „Brückentürmer“. Manfred Rieger ist noch da. Sie nannten ihn immer „Rabbi“. Er hat vergessen, warum. „Eine tolle Zeit“ sei das gewesen und er betont: „Ich habe oft in meinem Leben zum richtigen Zeitpunkt aufgehört.“ Mit dem Arbeiten, mit dem Autofahren und auch mit dem Klettern. Abwechselnd sagt er mal „Mir geht’s gut“ und ein paar Minuten später „Ach, mir geht es nicht mehr gut.“ Kommt auf die Perspektive an.

Er ist eben nicht mehr dieser wieselflinke Jungspund als der er 1942, mitten im Krieg, das Klettern für sich entdeckte. „Damals haben wir nachts freiwillig Luftschutzwache gemacht und sind früh mit dem ersten Zug in die Sächsische Schweiz zum Klettern gefahren“, erinnert er sich. Niemals rechnete er damit, dass der Krieg noch nach Sachsen kommen und ihm alles nehmen würde, bis auf seinen Lebensmut und seine Familie. „Ich wohnte damals mit meinen Eltern in Striesen, war aber in der Nacht zum 14. Februar mit Freunden auf der Balz.“ Dann gingen die Sirenen, und wenig später sei er aus einem Keller gekrochen, über dem alles in Schutt und Asche lag. „Mit einem großen Stück Dachpappe als Schutz bin ich zu unserem Haus gelaufen. Es stand noch. Gemeinsam mit meinem Vater wollte ich vom Dachboden retten, was zu retten ist.“ Doch dann kündigte sich der nächste Angriff an. Wieder mussten sie in den Keller. Danach schleppten sie sich ans Elbufer, fanden später bei Freunden in Coschütz Unterschlupf.

Mit Kriegsende drehte sich die Erde auch für Manfred Rieger weiter, und er suchte nach Zerstreuung und Frieden auf den Gipfeln der Felsen. „Wir hatten kaum gescheite Seile, fast keine Ausrüstung und kletterten meist barfuß.“

Die Kamera im Fokus

Fotografiert wurde dabei eher selten. Dabei war Manfred Rieger Experte auf diesem Gebiet. Vor dem Krieg machte er eine Ausbildung beim Kamerahersteller Zeiss Ikon in Dresden. Nach 1945 kam er als Feinmechaniker bei Ihagee unter und baute weiter Fotoapparate. Pünktlich zur Wende ging er in Rente. Die edlen Kameras, die er zu Hause sammelte, hat der 91-Jährige inzwischen abgegeben. „Die brauchen doch so viel Pflege wie ein Auto“, sagt er. Wenn er heute noch Fotos machen will, dann benutze er – ganz im Ernst – diese Wegwerfkameras mit 27 Aufnahmen. „Das reicht mir völlig aus.“ So oft bekommt er ja nun nicht mehr spannende Motive vor die Linse. Früher war das ganz anders. Über 60 Jahre lang waren Brigitte und er verheiratet. 30 Jahre lang genossen sie ihr Leben auf einem Grundstück am Waldbad Weixdorf. „Unser Enkel ist dort groß geworden und hat dort Schwimmen gelernt.“

Sülze auf dem Postplatz

Seit elf Jahren lebten Brigitte und er in dieser Wohnung hier, bis sie 2014 in ein Pflegeheim musste. „Drei Jahre lang war ich mit ihr jeden Nachmittag mit dem Rollstuhl unterwegs.“ Heute erinnert ihn eine Foto-Collage in der Küche an diese Zeit. An der Türklinke darunter hängt noch ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Oma ist die Beste“. Ihre gemeinsame Tochter arbeitet als Bestatterin in Berlin und ließ Brigitte dort in einem Friedwald beerdigen. „Manchmal ist es jetzt ein bissel einsam“, sagt Rieger. Mittagessen geht er meist auf den Postplatz. Sehr gern Bratkartoffeln und Sülze. Abends gibt es zu Hause Brot und auch mal eine Flasche Bier.

Menschen zum Reden trifft er nicht mehr viele, aber immerhin hat er seinen Siggi. Der ehemalige Schulfreund lebte lange in Florida. Inzwischen ist er zurück in Dresden und wohnt nur ein paar Blocks entfernt. „Wir besuchen uns oft und haben sogar zusammen Weihnachten gefeiert.“ Dieses Jahr freut sich Manfred Rieger schon wieder auf den Winter. Unbedingt will er nämlich noch einmal im Ostragehege Eislaufen gehen, wenn es die Beine mitmachen. Der Rucksack steht gepackt im Flur.

In der Serie „Ein Leben voller Leben“ stellt die Sächsische Zeitung ältere Menschen vor, die viel zu erzählen haben. Kennen Sie jemanden, der auch in diese Reihe passen könnte? Rufen Sie an unter 48642210 oder schreiben Sie an [email protected].