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Der Letzte gewinnt

Das Hauptfeld wartet beim Dresden-Marathon wegen einer Zugverspätung fünf Minuten. Und ein Senior verschiebt zuvor seinen Rekordversuch.

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© Ronald Bonß

Von Jochen Mayer

Läufer brauchen gute Nerven. Die hatte Dickson Kurui schon vor dem 19. Piepenbrock Dresden-Marathon. Seine Zugfahrt aus Frankfurt/Main war nach Streckensperrung und Schienenersatzverkehr zum zeitlichen Abenteuer geworden. Das komplette Läuferfeld musste fünf Minuten auf den Mann aus Kenia warten. Der bekam in höchster Eile Zeitmess-Chip und Startnummer verpasst. Es wurde ein Happy End. Der Letzte, der dazukam, lief als Erster durchs Ziel. „So kann man auch Marathons gewinnen“, sagte Gerald Henzel. Der Chef des veranstaltenden Marathon-Vereins registrierte zwar, dass die Siegerzeit von 2:25:14 Stunden in Dresden mehrfach unterboten worden war. Doch die Umstände ließen wohl nicht mehr zu. Dabei hatten 7 400 gemeldete Läufer aus 65 Ländern beste Bedingungen bei Sonnenschein.

Bilder vom Dresden-Marathon

Lokalmatador Marc Schulze wird zweiter und jubelt im Ziel.
Lokalmatador Marc Schulze wird zweiter und jubelt im Ziel.
Der Kenianer Kurui Dickson gewinnt den Dresden-Marathon.
Der Kenianer Kurui Dickson gewinnt den Dresden-Marathon.
Foto: ronaldbonss.com/ Bonss
Foto: ronaldbonss.com/ Bonss

Die wollte auch Lokalmatador Marc Schulze nutzen. „In meinem letzten ernsthaften Marathonlauf wollte ich unter 2:30 Stunden bleiben“, sagte der Zweiplatzierte. Die erste Hälfte lief nach Wunsch, doch auf der zweiten Runde musste er abreißen lassen, lief ein einsames Rennen. „Es wurde schwer in den Beinen und im Kopf.“ Und doch genoss der 32-Jährige sein Heimrennen: „Ich dachte, dass hinter jeder Ecke an der Strecke Bekannte, Freunde oder Nachbarn stehen. Es ist schön, dieses letzte Rennen zu Hause auf vertrauten Strecken zu haben.“ Zehn Jahre lief er ambitioniert die langen Strecken. Jetzt will der Softwareentwickler einen Gang zurückschalten. Dafür sorgt auch Familienzuwachs: Die vierjährige Tochter Leah hat seit Mittwoch Brüderchen Noah.

Für den Marathon stand auch Lothar Bathe in der Liste. Der Berliner von Stahl Hennigsdorf hatte den Dresden-Marathon vor drei Jahren gewonnen. Seine 3:44 Stunden galten als Superzeit – bei den über 75-Jährigen. Jetzt reizte ihn ein Rekord für Läufer ab 80. Doch am Sonnabend wechselte der Weißschopf auf die zehn Kilometer, was problemlos funktionierte. „Ich habe Trainingsrückstand“, entschuldigt er sich fast für seine Vernunft-Entscheidung, Gesundheit geht vor. „Ich habe zu spät angefangen, und dann wohl zu viel gemacht.“

Doch zufrieden wirkt der schnelle Senior nicht am Sonntag, als er vom Sprecher und damit auch für Zuschauer unbemerkt durchs Ziel läuft. „4:59 Minuten im Schnitt der Kilometer“, lautet sein Kommentar. Dabei zeigt er die Laufuhr. „Das kann ich schneller. Aber die Saison war zu lang.“ Die begann für ihn im Januar mit Hallenrennen. Von 1 500 Metern bis Marathon hält er alle Brandenburger Laufrekorde seiner Altersklasse. Jetzt reizen ihn auch die Sprints.

Aber er lächelt schnell wieder, lobt den „herrlichen Lauf. Die Strecke ist ideal, ein schöner breiter Kurs. Da behindert sich niemand. Und unterwegs bekommt man viel zu sehen von der Stadt. Ein tolle Stimmung.“ Seine Frau stammt aus Großenhain, sie stand an der Strecke, die Tochter kam nach dem Vater ins Ziel.

Lothar Bathe war in jungen Jahren leidenschaftlicher Radsportler, fuhr bei Rund um Berlin für seine damalige Betriebssportgemeinschaft Rotation. Viel Zeit blieb ihm nicht für Sport. Als Selbstständiger hatte er mit Büromaschinen-Reparaturen 35 Jahre lang reichlich zu tun. Erst als Rentner blieb mehr Zeit für Sport und die Wende brachte mit Duathlon eine ideal passende neue Sportart. „Im Winter steige ich weniger aufs Rad und renne mehr, zum Ausgleich“, erzählt er. „Deshalb fand ich schnell Geschmack am Duathlon, die Sportart ist maßgeschneidert für mich.“ Gleich neunmal wurde er Europameister beim Ausdauer-Zweikampf in seinen Altersklassen.

Die Wettbewerbe dauerten für den Senior immer um die dreieinhalb Stunden. Ähnlich lange können Marathonläufer unterwegs sein. Lothar Bathe wollte es wissen, versuchte sich 2005 in Berlin erstmals am Klassiker. Seitdem steht seine Bestzeit bei 3:22 Stunden. Inzwischen ist für ihn einmal im Jahr ein Marathon angesagt – die Ausnahme ist diese Saison. 2015 war er sogar deutscher Meister bei den über 75-Jährigen geworden.

Jetzt reizen ihn nach dem Aufstieg in die neue Altersklasse neue Brandenburger Rekorde. Dafür ist er jeden Tag aktiv – auf dem Rad im Freien oder auf dem Hometrainer und in Laufschuhen. Seine Maxime: „Man darf nicht zu viele Kilo mit sich rumschleppen.“ Und durch das Radeln lassen sich auch die Knieprobleme überspielen. Das Alter hinterlässt jedoch bei jedem seine Spuren. Dabei weiß er: „Neue Bestzeiten tun gut, aber international gibt es ein ganz anderes Niveau beim Seniorensport.“ Realistisch schätzt Bathe ein, dass er schneller als bisher kaum noch mal sein wird. „Aber ich will wenigstens annähernd die Zeiten wieder erreichen, die ich schon mal geschafft hatte.“ Und doch musste er jetzt feststellen: „Es lässt sich nicht alles so planen, wie man will.“

Nächstes Jahr ist Dresden wieder fest eingeplant. Dafür verzichtete er diesmal auch auf Frankfurt/Main, wo nächstes Wochenende erneut die Senioren-Meistertitel im Marathon vergeben werden. Dort startet sein härtester Konkurrent: Clemens Wittich aus Dortmund. Der ist drei Monate älter und will mit TV-Begleitung den deutschen Altersklassenrekord brechen. „Er ist stärker als ich“, gibt Lothar Bathe neidlos zu. „Der ist aber auch viel schmaler als ich, bei einem BMI von 20,5 kein Wunder. Ich liege bei 24.“ Und ein Schmunzeln huscht über das Gesicht. Er kann auch über sich lächeln, weil er Freude hat an seinem Leben.