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Der große Kampf der kleinen Bäcker

Discounter und Tankstellen bedrohen mit Industrieware kleine Handwerker. Aufgeben gilt trotzdem nicht, sagt Wolfram Schuster, Bäcker in Dresden-Gruna.

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© ronaldbonss.com

Von Tobias Wolf

In den hellgrauen Wohnblöcken von Dresden-Gruna ist es still. Der ganze Stadtteil ruht noch unter der Decke der Nacht. Nur hinter einer Handvoll Fenster flackern die Fernseher von Nachteulen, die nicht ins Bett finden. Das grell-weiße Neonlicht aus dem Souterrain eines alten Bürgerhauses am Rand des Plattenbaugebiets wird nicht mehr ausgehen. Um kurz vor drei Uhr ist Wolfram Schuster hier der Einzige, der hellwach ist.

Backen ist - trotz aller Hilfsmittel - vor allem vielfach geübte ...
Backen ist - trotz aller Hilfsmittel - vor allem vielfach geübte ... © ronaldbonss.com
... und präzise Handarbeit. Mitten in der Nacht.
... und präzise Handarbeit. Mitten in der Nacht. © ronaldbonss.com

Der 51-Jährige, kurze Hose, T-Shirt, grau-braun meliertes Haar, dünner Kinnbart, schlürft eine Tasse Kaffee in der Backstube. Der Ofen surrt sich noch warm. Die Wagen mit den Blechen für Brötchen und Blätterteig sind leer. Jetzt ist Kuchenzeit. Die handgeschriebene Auftragsliste klebt an der weißen Fliesenwand: ein großes eckiges Blech mit Klecksel- und Kirschkuchen, 15 runde. Bienenstich, Eierschecke, Pflaume, Mohn, Rhabarber, Heidelbeer. Noch ahnt man den Duft der Kuchen nur.

Eine Stunde hat der 51-jährige für die süßen Stücke. Der Bäckermeister ist allein, der Geselle hat Urlaub. Er muss deshalb schneller sein als sonst. „Vorbereitung ist alles.“ Und die Übersicht behalten. Ein paar Schweinsohren, 100 Brote und 1 200 Brötchen wollen auch noch gebacken sein. Eine sportliche Herausforderung. Früher hat er Hockey gespielt, es aber irgendwann aufgegeben. „Das Verletzungsrisiko ist mir zu hoch, ich kann nicht einfach mal vier Wochen krank sein.“ Bäcker sein ist Sport genug. Laufen, Beugen, Muskelübungen.

Schuster hat dicke Teigfladen geknetet, die mit Maschine und Nudelholz zu großen dünnen werden. Ausrollen, in die Form legen und mit der Stachelwalze perforieren. Fertig ist der Rohling für den Tortenboden. Immer pendeln, von der Backstube durch den engen Gang mit den vielen aufgehängten Kuchenformen in den Lagerraum mit dem Kühlschrank, von dort in die Küche und wieder in die Backstube. „In einer Nacht bringe ich um die 10 000 Schritte zusammen.“ Schuster hat nachgemessen.

Große Kuchen sind selten geworden, erzählt er. Weil zu viel Billig-Konkurrenz in Supermärkten und Tiefkühltruhen lauert. Die Bäckerinnung spricht von einer Geiz-ist-geil-Mentalität der Kunden. Jaja, die guten alten Zeiten. Die hat Wolfram Schuster nie kennengelernt. Als es noch auf jedem Dorf und jedem Viertel der Stadt mindestens einen Bäcker gab. Als der Duft von Brot und Brötchen einfach dazugehörte.

Heute bedrohen Massenprodukte die Vielfalt. Blasse Teiglinge, die in Supermärkten, Discountern und Tankstellen aufgebacken werden. Handwerk gegen Industrie. David gegen Goliath, „Wir haben noch Glück“, sagt Schuster und guckt kurz vom mehlbestäubten Arbeitstisch hoch. „Der Stollen hält viele kleine Handwerksbetriebe am Leben.“ In der Weihnachtszeit verkauft Schuster ein paar Tonnen davon.

Um die 1 000 Bäcker gibt es in Sachsen, gut 100 in Dresden. Bundesweit sind es noch 12 000 Betriebe. Gut drei Prozent schließen Jahr für Jahr, in Sachsen ein paar Dutzend. Die meisten, weil sie keinen Nachfolger finden.

Schuster ist vergnügt, die frühe Zeit macht ihm nichts aus. Wenn er lacht, umspielen Fältchen Mund und Augen. Die Mohnmasse glänzt schwarz unterm Neonlicht. Schuster hat sie selbst angerührt. Fertigmischungen sind tabu. „Klar kann ich das alles auch zubereitet in der Tüte kaufen, aber das will ich nicht“, sagt er. „Was ich nicht selber machen kann, gibt es bei uns nicht.“ Basta. Schuster wird diesen Satz noch öfter sagen. Er ist ein Konservativer, wenn man so will.

Die Bäckerei gibt es an der Straße schon seit 1880. Der Laden ist klein. Eine Auslage an der Wand, eine Glastheke, ein Zeitungsständer. Wenn zehn Leute drin sind, geht die Tür nicht mehr auf. Vor 14 Jahren hat Schuster den Betrieb mit Ehefrau Manuela vom Schwiegervater Horst Kunadt übernommen. Er bäckt, sie verkauft. Der Geselle, drei Verkäuferinnen und ein Fahrer helfen mit. Bis heute trägt das Geschäft mit der Extra-Filiale im benachbarten Stadtteil Strehlen den Namen Kunadt. Bis vor zwei Jahren haben sie über der Backstube gewohnt, nun wohnen sie in seinem Elternhaus ein paar Straßen entfernt.

Neben der Backstubentür ist ein Spruch mit Klebeband an die Wand gepinnt: „Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitergeben des Feuers.“ Schusters Philosophie, seine Vorstellung von Handwerk, Tradition, guten Zutaten. Am besten nachhaltig und regional, wie er es nennt. Die Abwärme des Ofens heizt das Warmwasser in der Bäckerei, Roggen- und Weizenmehl aus dem Erzgebirge oder der Lommatzscher Pflege kommt von der Dresdner Mühle. „Das geht natürlich nicht bei allem, weil Sesam oft aus Indien und die Rosinen aus der Türkei kommen.“

Gegen den Bequemlichkeitstrend in der Gastronomie kauft Schuster Eier, wenn andere längst Eigelb und Eiweiß getrennt im Tetrapack verwenden. 360 Eier pro Woche, gut 19 000 im Jahr. Von einem kleinen Hof in der Lausitz. Schuster erzählt das, während er in der linken Hand einen Stoffsack mit Spritztülle hält, in den er mit der rechten die Mohnmasse hineinschaufelt. Vom Sack geht es in dicken Schrägstreifen über eine Hälfte des großen Blechs. Kreuz und quer, aber wie mit dem Lineal gezogen. In die Rauten fließt Quark, darüber feine Linien aus Mehrfruchtmarmelade.

Tortenböden aus dem Ofen, Kuchen rein, Temperatur auf 240 Grad einstellen. Süße Sachen haben es gern etwas kühler als Brot. 40 Minuten bleiben die Kuchen drin. Zeit für Brötchen. Schuster rennt, rührt, knetet, presst und rollt in einer Geschwindigkeit und Präzision, als er hätte vier Hände und nicht zwei.

Von der Knetmaschine holt er den Weizenteig und portioniert alles mit Spachtel und Nudelholz. Aus Teiglappen werden kleine Kugeln. Zusammengesetzt ergeben sie luftige Doppelbrötchen, die hier „Schlesier“ heißen und 50 Cent kosten. Ein paar Teigkugeln gehen in den Garraum neben dem Ofen. Das macht den Teig dichter, das Brötchen kleiner. Als „Altdeutsche“ verkauft Schusters Frau sie später für 30 Cent. „Die wollen viele Kunden am Samstag, wenn sie sich zum Frühstück etwas gönnen.“ Mancher spricht Freitagnacht auf Schusters Anrufbeantworter, damit für das Familienfrühstück auch genug da ist.

4 Uhr. Der Kurzzeitwecker piept. Schuster zieht die ersten Roggenbrötchen aus dem Ofen, pinselt Wasser drauf. „Für den Glanz.“ Alle Brötchen werden später glänzen. Es ist erst der Auftakt für den Brot-Marathon. Während die kleinen Teige sich in der großen Hitze zu großen Backwaren aufplustern, legt Schuster nach. Überall duftet es jetzt nach frischen Brötchen und Kuchen. „Ich bin das gewöhnt, ich riech das gar nicht mehr alles“, sagt Schuster. Aber wenn etwas anbrennt, hat er ein feines Näschen. Draußen fangen die ersten Vögel an zu zwitschern.

Aus dem großen Silo lässt Schuster Mehl in die Knetschüssel fallen, etwas Weizen, viel Roggen und warmes Wasser. Alles wird mit dem Sauerteig vermischt. Seit dem Vortag gärt er. 800 Mikroorganismen sorgen für unverwechselbaren Geschmack. Eine über 40 Jahre sorgsam gehegte Kultur, die mit Hefe und Milchsäuren am Leben erhalten wird – das Vermächtnis von Schusters Schwiegervater.

Solche Brote halten locker eine Woche, sagt Schuster. Am besten im Leinenbeutel oder einem Gefäß, was nicht ganz luftdicht ist, damit die Feuchtigkeit entweichen kann. Mancher Kunde lasse sein Brot immer zwei Tage liegen, weil es erst dann völlig durchsäuert ist und das volle Aroma entfaltet. „In der Industrie wird Sauerteig immer neu angesetzt, da sind vielleicht 40 verschiedene Organismen drin.“ Schuster legt Wert auf den Unterschied. Nun entstehen Vollkorn-Brote in Kastenform. Schuster knetet, rollt mit den Händen und lässt auf ein paar der Teiglinge Körner rieseln.

Der Blätterteig ist ein Kunstwerk. Eine Lage Weizenteig, eine Lage Margarine, eine Lage Weizenteig, insgesamt 144 übereinander. Mit Lineal und einer Art Pizzaschneider mit sieben Rollen schneidet er in Windeseile Taschen zurecht, füllt sie mit Apfelkompott und Rosinen. Hinterher werden sie noch mit selbst gemachter Aprikosenglasur überzogen, damit auch sie schön glänzen. Das Auge isst ja mit.

Für die Schweinsohren zerteilt er die nächste Lage Blätterteig mit dem Spachtel in dünne Streifen und zupft sie zurecht. Sie kommen gleich in den Ofen. Es ist kurz vor halb sechs. Endspurt. Schuster trinkt schnell die zweite Tasse Kaffee in dieser Nacht. Pausen gibt es nicht.

Selbst eine ambitionierte Hobby-Bäckerin würde wohl neidisch werden, so, wie hier jeder Handgriff sitzt. Dabei hatte Schuster einst ganz andere Träume. Zu DDR-Zeiten hatte er eine Lehre als Baufacharbeiter mit Abitur gemacht, wollte nach dem Studium Berufsschullehrer werden. Manuela Schuster ist gelernte Textilverkäuferin, wollte Ausbilderin werden. Ihr Vater hatte eine Backstube zur Miete, gegenüber von der heutigen Strehlener Filiale. „Er hat uns nach der Wende gefragt, ob wir übernehmen, wenn er investiert, erst dann hat er die Bäckerei hier gekauft“, sagt die 52-Jährige. „Allein kann man so etwas nicht machen.“ Ehemann Wolfram schulte auf Bäcker um und erwarb den Meistertitel. Seit 1991 arbeitet er im Betrieb.

Ob er das Feuer der Tradition weitergeben kann, ist unsicher. Es gibt niemanden, der den Betrieb übernehmen könnte. Die erwachsenen Töchter wohl auch nicht. Eine wird Polizistin, die andere Lehrerin. „Wenn Kinder von Handwerkern keine Handwerker werden, wissen sie, warum“, sagt Schuster und grinst. Ans Aufgeben denkt er nicht. Vielleicht finde sich in zehn, 15 Jahren jemand.

„Mein Schwiegervater hat bis 72 gearbeitet und würde gern immer noch.“ Der Altmeister fühle sich unterbeschäftigt, aber die Gesundheit lasse den schweren Job nicht mehr zu. Dabei ist es viel leichter als früher. Damals wurden zentnerschwere Mehlsäcke noch auf der Schulter in die Backstube getragen, heute gibt es Silos. „Vielleicht geht es mir irgendwann auch so, dass ich nicht aufhören will.“

Aber noch rennt der Mann durch seine Backstube, als wäre er gerade erst in den Beruf gestartet. Manchmal wird auch er müde, meist gegen sieben. „Dann gibt es einen halben Liter eiskalte Cola“, sagt er. „Kälteschock und Koffein machen munter.“ Heute hält der Zeitdruck wach. Die Brötchen müssen aus dem Ofen, die Temperatur runter und Apfeltaschen und Schweinsohren rein. Dann schnell die Zuckerglasur angerührt und über die inzwischen ausgekühlten Kuchen verteilt. Ein Wunder, dass der Mann nicht ständig nascht. Im Gegenteil. Die ganze Nacht isst Wolfram Schuster nicht einmal einen Krümel aus seiner Backstube.

Viertel sieben. Der Mann ist immer noch vergnügt. Letzte Runde. Die Mischbrote sind dran. Im Laden räumt seine Frau schon die Auslage ein. Die beiden haben sich noch nicht gesehen, nur das Zwitschern seines Handys hat sie angekündigt. Jeder hat seinen Aufgabenbereich. Für ein Kilo fertiges Roggenbrot braucht er 1 160 Gramm des säuerlich riechenden Teigs. Wiegen und formen, portionieren, kneten, rollen. Alles im Akkord. Aus kleinen schroffen Teigbergen mit aufgebrochenem Gipfel werden formschöne runde Laibe.

Zwischendurch läuft er zum Ofen. Die Schweinsohren müssen umgedreht werden. Zwölf Minuten auf der einen Seite backen, noch mal fünf auf der anderen. Sein Teilzeit-Mitarbeiter, ein Enddreißiger mit Bart und Fahrradkurier-Rucksack ist seit über einer Stunde da und wird die Hälfte des feinen Gebäcks mit Schokoglasur verzieren. Dekoration und Reinigung der Werkzeuge ist sein Hauptjob. Danach fährt er die Ware zur Filiale in Strehlen. In zwei Runden, denn die letzten Brote werden erst fertig, wenn die Läden schon geöffnet sind. Neben seiner Frau stehen zwei Mitarbeiterinnen im Wechsel hinter den Verkaufstresen.

Schuster streut im Sekundentakt Haferschalenmehl als Trennmittel in die Brotformen aus Pappmaché. Ebenso schnell landen die Teige darin und alles zusammen im Ofen. Es ist dreiviertel sieben. Er geht noch einmal die Liste mit der Planung durch. Vier Leinsamenbrote müssen dabei sein. Am Ende sind es nur drei. Seine Stammkunden werden es ihm verzeihen.

Ein bisschen macht sich der Stress dann doch bemerkbar, wenn Schuster die Backstube nahezu allein schmeißt. Im Juni ist sein Geselle damit dran. Ein zuverlässiger Mann, dem er seit Jahren vertraut. Erholung ist auch dem Meister wichtig, am liebsten mit Aktiv-Urlaub. Diesmal soll es nach Sizilien zum Wandern gehen. Sonst geht er gern mit seiner Frau in Mecklenburg paddeln und im Winter in Tschechien Ski fahren. Aber bis dahin wird er noch Tausende Brötchen und Brote backen.

7.25 Uhr. In zehn Minuten sind die Brote fertig. Schuster rührt schon etwas Vorteig für die nächste Nachtschicht an. Dreiviertel acht geht der Ofen aus. Zumindest er hat jetzt Feierabend. Mit einer Blechschaufel holt Wolfram Schuster die braun-knusprigen Brotlaibe heraus, besprüht sie mit etwas Wasser. Man ahnt es: damit sie schön glänzen. Der Duft des frischen Brotes legt sich über die ganze Backstube. Zum Reinbeißen.

Erst jetzt gönnt sich der Meister eine richtige Pause. „Schlesier“-Doppelbrötchen mit Salami und Käse an seinem Tisch hinter dem Laden und eine halbe Stunde mit zwei Tageszeitungen. Dann geht er wieder in die Backstube, rührt noch mehr Vorteig an. Nach der Schicht für eine Stunde ins Büro. Stunden abrechnen, Löhne zahlen, Rohstoffe bestellen. Wenn Wolfram Schuster am Vormittag nach Hause geht, hat er acht Stunden hinter sich. Geschlafen wird in Schichten, drei Stunden mittags, vier am Abend. Vor der zweiten Runde geht er mit Ehefrau Manuela noch einmal die Backaufträge durch. Für die nächste Nachtschicht, die immer auch Schusters ganz persönlicher Kampf um die alte Bäckertradition ist.