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Der größte Kochtopf Riesas

Seit einem Jahr beliefert Gastro-Selle fast alle Schulen der Stadt. Die SZ hat die Küche besucht.

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© Matthias Seifert

Von Christoph Scharf

Riesa. Diesen Kochlöffel packt Küchenchef Matthias Hanisch besser mit beiden Händen an: Der Griff ist lang wie ein Besenstiel. Aber der Kochtopf ist ja auch etwas größer, als man ihn aus der heimischen Küche kennt: Er fasst 300 Liter. Und beim Gastroservice Selle stehen gleich mehrere Reihen davon. Die werden auch nie so wirklich kalt. „Bei uns wird an 365 Tagen im Jahr gekocht“, sagt Geschäftsführer Holger Selle. 2010 war er seinem Vater als Chef der einstigen Stahlwerkskantine gefolgt. Heute arbeiten hier – mitten zwischen den Werkhallen der Feralpi-Stahl- und -Drahtwerke – mehr als 100 Mitarbeiter.

Chef Holger Selle kostet jeden Tag selbst.
Chef Holger Selle kostet jeden Tag selbst. © Lutz Weidler

Sie kochen an einem Werktag mehr als 4 000 Essensportionen. Diese Zahl ist vor einem Jahr deutlich gewachsen: Denn 2017 hat Gastro-Selle den Riesaer Schulessen-Anbieter Cena et Flora übernommen. Dessen Chefin war in den Ruhestand gegangen, außerdem hatte deren Küche dem geplanten Schul-Umbau weichen müssen. Nun also werden die meisten Riesaer Schüler vom Stahlwerks-Areal aus beliefert. Sie bekommen allerdings nicht dasselbe Essen wie die anderen Abnehmer von Gastro-Selle: Betriebskantinen oder Essen-auf-Rädern-Kunden. Schließlich unterscheidet sich der Geschmack eines Grundschülers von dem eines Stahl-, Reifen- oder Betonwerkmitarbeiters: Während der eine eher mal eine Süßspeise mag, bevorzugt der andere etwas mehr Gewürze.

„Wir haben ein eigenes Team, das sich nur um die Schulspeisung kümmert“, sagt der Chef. Von Cena et Flora hat er 24 Mitarbeiter übernommen, nun ist Antje Kleeberg für den Bereich zuständig.

Ob Schulessen oder Kantinenmahlzeit: Früh um halb fünf fangen die ersten Kolleginnen bei Gastro-Selle an, holen die für den aktuellen Speiseplan nötigen Zutaten aus der Tiefkühlzelle. Vieles wird von regionalen Betrieben geliefert, sagt Holger Selle. „Das Fleisch kommt aus Belgern, Eier und Sauerkraut aus Lommatzsch, das Obst von Macoo aus Riesa.“ Geliefert wird täglich. So steht der Lieferant für die Hamburger-Brötchen früh halb fünf schon auf der Matte. Der Mann, der die Kartoffeln bringt, hat sogar einen Schlüssel: Denn die Palette vom Großhändler nahe Glauchau kommt nachts. „Wir brauchen mal 200 Kilo Kartoffeln, aber auch mal 500 oder 600“, sagt Selle. „Pro Tag.“

Ab sechs Uhr dann werden die Kessel befüllt. Beheizt werden sie von einem zentralen Dampferzeuger im Keller. Dennoch braucht es ein Weilchen, bis das Wasser kocht – schließlich fasst ein Kessel so viel wie zwei Badewannen. Zu DDR-Zeiten wurden die Kessel sogar mit Dampf vom Stahlwerk beheizt, erinnert sich Holger Selle. „Aber in der Umbruchzeit nach der Wende wusste man nicht, wie es damit weitergeht – und hat sich damals für ein anderes System entschieden“, sagt der 45-Jährige.

Während die Kessel langsam mit Dampf warm werden, sorgt in den modernen Kombidämpfern daneben der Strom für die richtige Hitze, um Gemüse zu dünsten oder Fleisch anzubraten. Da kann man auch mal 400 am Vortag per Hand gefüllte Paprikaschoten gleichzeitig zubereiten. Mittlerweile ist es neun Uhr geworden. Jetzt sind die Fahrer da und laden nacheinander an der Laderampe ihre Fahrzeuge voll. Um zehn Uhr müssen sie wieder verschwunden sein: Die insgesamt 17 Autos sind täglich 750 Kilometer unterwegs, um 450 Kunden in einem Umkreis bis nach Meißen, Großenhain und Oschatz zu beliefern. „Für das Schulessen haben wir zwei eigene Fahrzeuge“, sagt Selle.

Und nicht nur das: Auch die Mitarbeiter sind speziell für die Schulen zuständig. Pro Einrichtung gibt es zwei bis drei Ausgabekräfte, die einen kurzen Draht zu den Schülern haben. Wenn es nicht schmeckt, zu viel oder zu wenig ist, bekommen sie das gleich mit. „Auch unsere Schulessen-Köche stehen ab und zu an der Ausgabe, um direkte Rückmeldungen zu bekommen.“ Das Team Schulspeisung hat noch eine andere Herausforderung: Die Zahl der Kinder mit Unverträglichkeiten nimmt zu. „Rund 30 Kinder vertragen etwa keine Milch, kein Paprika oder kein Gluten“, sagt Antje Kleeberg, die sich als gelernte Diätassistentin mit Unverträglichkeiten auskennt. Selbst Diabetes kommt bei Schülern vor. Darauf stelle man sich bei den jeweiligen Menüs individuell ein – ein Aufwand, der aus technischen Gründen bei den Essen-auf-Rädern-Kunden nicht zu leisten sei: Dort werden täglich 1 000 Mahlzeiten am Fließband verpackt.

Mittlerweile ist es um zehn: Es geht ans Großreinemachen. Um elf muss die Küche sauber sein, denn dann geht für einen Teil der Kollegen die Essensausgabe los, während ein anderer sich schon daran macht, Tomaten und Gurken für den nächsten Tag zu schneiden. Bleibt noch die Frage: Wird das Essen teurer? Auszuschließen ist das nicht, sagt Holger Selle. „Der Mindestlohn steigt alle zwei Jahre. Und nun werden wegen des trockenen Sommers auch noch die Lebensmittel teurer.“ Bei den Kartoffelpreisen merke man das schon jetzt – die Deutsche Landwirtschafts-Gesellschaft erwartet eine der kleinsten Kartoffelernten, die Deutschland jemals hatte. Und nach und nach werde sich das auch bei anderen Lebensmitteln bis hin zum Fleisch auswirken. „Schließlich ist auch das Tierfutter knapp“, sagt Holger Selle, der in seinem Betrieb auch eine eigene Fleischerei betreibt.

Die Herausforderung treffe aber alle Essensanbieter – nicht nur in Riesa. „Wir aber kochen seit 25 Jahren in Riesa für Riesa. Und bieten Arbeitsplätze vor Ort“, sagt Holger Selle.