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Der Fortschritt hat einen Pferdefuß

Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff betritt in ihrer Dresdner Rede vermintes Gelände, als sie scharf zugespitzt gegen künstliche Befruchtung und Hilfsangebote zum Suizid polemisiert.

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© kairospress

Von Karin Großmann

Mit kühler Stimme metzelt sie die heiligen Kühe des Fortschritts. Mit ihren Thesen fordert sie deutlich zum Widerspruch auf. Die Hoffnung auf himmlischen Trost, die sie beschwört, dürfte vielen im Saal fremd sein.

Als Schriftstellerin bestimmt Sibylle Lewitscharoff über Glück und Unglück ihrer Figuren. Sie hat die Herrschaft über das leiseste Mundwinkelzucken. Die Allmächtigkeit gehört zur Literatur seit Erfindung der Schrift. Es ist auch die Lust am Schöpfungsspiel, die zum Schreiben treibt. Im Leben aber bezweifelt Sibylle Lewitscharoff den Nutzen eines solchen Verfahrens, ja, sie warnt ausdrücklich vor dem Wunsch nach Herrschaft über das eigene Ich. „Heiteres Gewährenlassen und nicht über alles, wirklich alles bestimmen zu wollen, ist geradezu der Garant für ein in Maßen gelingendes Leben“, sagte sie in ihrer Dresdner Rede gestern im Schauspielhaus.

Die 59-Jährige, in Stuttgart geboren, gehört zu den anerkanntesten Vertretern der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie verbindet das Hochfliegende mit dem Alltäglichsten, die Wirklichkeit mit dem Wunderbaren. Sie steht auf vertrautem Fuß mit den Engeln und scheint auch kundig zu sein in der Sprache der Tiere. Im vorigen Jahr wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten literarischen Lorbeer im Land. Ihre Romane wie „Apostoloff“ und „Blumenberg“ bestechen durch präzise Beobachtung, Belesenheit und blitzfunkelnden sprachlichen Witz.

Auf das kleine Fluten der Ironie aber, Sibylle Lewitscharoff sagt es bedauernd, muss sie an diesem Vormittag verzichten. Zu ernst ist das Thema, das sie sich selbst gewählt hat. Es geht um Grundsätzliches, um die Geburt und den Tod – und um die Art und Weise, wie heute in beiden existenziellen Situationen nachgeholfen wird. Mutig betritt die Autorin vermintes Gelände. Pränatale Diagnostik und ihre Folgen, Sterbehilfe und Apparatemedizin, künstliche Befruchtung und Embryonenschutz – wenige Themen fordern so zum Streit heraus wie diese. Selbst wenn zwei Wissenschaftler beieinander stehen, finden sie selten zu einer Meinung. Parlamentarier lassen sich vom Fraktionszwang entbinden, wenn sie etwa über Stammzellforschung abstimmen sollen. In diesen Fällen wollen sie nur ihrem Gewissen folgen.

Noch schwieriger wird es, wenn der Glaube ins Spiel kommt bei solchen Entscheidungen. Sibylle Lewitscharoff studierte Religionswissenschaften. Kaum ein Literat ist so bibelkundig wie sie, Martin Mosebach vielleicht ausgenommen. Als Heranwachsende, erzählt sie, fand sie in einer familiären Krisensituation vor allem bei der geliebten frommen Großmutter Halt. In einem Essay schreibt die Autorin: „Gefragt, ob ich an Gott glaube, käme nur ein zögerliches, in umständlichen Begründungen sich verfangendes Ja heraus.“

Das mag manche ihrer Auffassungen erklären. Sibylle Lewitscharoff malt in ihrer Rede zum Beispiel das Schreckbild eines Arztzimmers, in dem zwar nicht die Glaskolben brodeln wie bei Frankenstein im Roman, doch ähnlich horrorhaft scheint es zuzugehen bei der Erschaffung eines neuen Menschen, glaubt man der Schriftstellerin. Sie findet es nicht nur suspekt, sondern „absolut widerwärtig“, wenn „ein Mann in eine Kabine geschickt wird, wo er, je nach Belieben, mit oder ohne Hilfe von pornografischen Abbildungen stimuliert wird, seine Spermien medizingerecht abzuliefern, die später in den Körper einer Frau praktiziert werden“.

Das Argument, dass sich manches Paar nur auf künstlichem Weg den Wunsch nach einem eigenen Kind erfüllen kann, will Sibylle Lewitscharoff nicht gelten lassen. Sie kann es offenbar auch nicht akzeptieren, wenn sich ein lesbisches Paar von einem nahen Verwandten oder einem anonymen Spender helfen lässt bei dem Wunsch nach einem Kind.

Sie kritisiert diesen Vorgang als „Selbstermächtigung der Frauen“, der die Männer degradiere und vor allem der Psyche des Kindes schade. Ihre Begründung: Das „Gemachtwordensein“ sei etwas anderes als das „Gezeugt- und Geborensein“ auf die übliche Weise. „Wie verstörend muss es für ein Kind sein, wenn es herausbekommt, welchen Machinationen es seine Existenz verlangt.“ Sie nennt es grotesk, und das ist es allerdings, wenn Frauen sich ein Wunschkind anhand bestimmter Merkmale aus einem Samenkatalog aussuchen in der Hoffnung, einen „gut aussehenden Nobelpreisträger mit hohem IQ-Wert“ zur Welt zu bringen. Bisher werden solche Sonderwünsche vielleicht bei amerikanischen Samenbänken berücksichtigt, bei deutschen kaum. Diese Depots verzeichnen freilich nicht nur die Blutgruppe eines Spenders, sondern auch die Hautfarbe und andere wichtige Körpermerkmale.

Von da ist es dann nur ein nächster Schritt bis zur Praxis der „Leihmutterschaft“, bei der meist Frauen aus armen Ländern als Gebärmaschinen benutzt werden; ein Geschäft, das Sibylle Lewitschroff „absolut grauenerregend“ nennt. Doch sie steigert sich noch in ihrer Empörung: „Mit Verlaub“, sagt die Schriftstellerin, „angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor.“ Der Vergleich ist ungeheuerlich, so wie jeder NS-Vergleich ungeheuerlich ist, und natürlich weiß das eine sprachmächtige Schriftstellerin wie Sibylle Lewitscharoff.

Im Übrigen wollte sie schon als Schülerin „den Faschismus rupfen“, wie sie in einem Interview sagte. Sie gehörte einem trotzkistischen Grüppchen an und wollte mit Flugblättern die Arbeiter der Bosch-Werke zum Kommunismus bekehren.

Auf der Dresdner Bühne sucht sie die provozierende Zuspitzung und überschreitet dabei Grenzen – selbst wenn sie dem NS-Vergleich ein „Ich übertreibe, das ist klar“ nachschickt. Und noch einen Satz schickt sie nach. Sie sei sogar geneigt, sagt sie, „Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen“, als „zweifelhafte Geschöpfe“, „halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“.

Ein Protest aus dem Publikum wäre spätestens hier zu erwarten gewesen. Doch er wird auch in den Foyergesprächen nach der Rede wenig hörbar. Selbst ein kontaminiertes Wort wie „abartig“ aus der Sprache des „Dritten Reiches“ geht unbeanstandet durch, so wie in der aktuellen Kriegsberichterstattung Verben wie „ausschalten“ oder „säubern“ den wenigsten Fernsehzuschauern unangenehm auffallen.

Und sicher stößt Sibylle Lewitscharoff vielfach auf Zustimmung, wenn sie etwa die „ungebremste Vorausberechnungs- und Definitionsgier gegenüber dem eigenen Kind“ scharf anprangert. Schließlich treibt der Drang zur Perfektionierung und Selbstoptimierung die befremdlichsten Blüten. Wenn alles technisch Machbare gemacht wird, muss das einer Schriftstellerin zuwider sein, die in ihren Romanen mit den Verrückten und Einsamen, den Mühseligen und Beladenen und Graumäusigen sympathisiert. Gerade das Unvorhergesehene, Unwahrscheinliche und Rätselhafte ist es, das in ihren Texten einen Stammplatz erhält. Ein lebendiger Löwe im Arbeitszimmer wird da wohlwollend zur Kenntnis genommen.

Über den Tod und das Sterben spricht Sibylle Lewitscharoff nicht weniger polemisch wie über die Anfänge des Lebens. Zunächst erzählt sie von eigener Erfahrung: Wie würdevoll und zuversichtlich die Großmutter starb in ihrem Gottvertrauen. Wie entsetzlich der Tod des Vaters war, der sich in seiner Stuttgarter Arztpraxis erhängte und es zuließ, dass seine Ehefrau ihn finden musste. Wie qualvoll eine Freundin litt, die als 88-Jährige nach Sturz und Koma reanimiert wurde und sich noch ein Jahr lang in einem Heim dahinschleppte, bis sie endlich gehen konnte.

Die Schriftstellerin ist nicht weltfremd; selbstverständlich erkennt sie die Leistungen und das Wissen der modernen Medizin dankbar an. Aber, sagt sie, der Fortschritt hat wie so manches Neue und Gute auch seinen Pferdefuß. „Die ärztliche Kunst wird, wenn es in höherem Alter eigentlich ans Sterben geht, häufig noch immer mit großem Aufwand betrieben, gerade so, als könne sie sich nie und nimmer damit zufriedengeben, dass der Mensch nun mal sterben muss.“ Die Folge solcher medizinischen Maßnahmen nennt sie einen „qualvoll verlängerten Horror“.

Patientenverfügungen, die den Horror verhindern könnten, sagen ihr aber ebenso wenig zu wie die verschiedensten Hilfsangebote zum Suizid. Sibylle Lewitscharoff lehnt derartig prinzipielle Eingriffe in den Lauf der Dinge ab und findet die Vorstellung, Herrin über ihr Schicksal zu sein, reichlich absurd. „Mein Schicksal liegt in Gottes Hand und nicht in meinen Händen.“ Selbst wer mit dieser Zuschreibung wenig anfangen kann, dürfte mit der Rede Stoff zum Nachdenken und Diskutieren bekommen haben, auch zur empörenden Reaktion auf die Empörung.