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„Das war ein Jugendstreich“

Mit anderen Jugendlichen hatte Gunder Poppe im August ’68 am Waldschlößchen vorbeirollende Russenpanzer mit Steinen beworfen. Dann kam die Angst.

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© Lutz Weidler

Von Christoph Scharf

Zeithain. Vom Rockschuppen Röderau stehen heute nur noch traurige Reste: Der Besitzer hat einen Großteil des Waldschlößchens abreißen lassen, weil die Bahn fürchtete, dass sonst Trümmer auf die Gleise stürzen könnten. Die verlaufen direkt hinter dem Gebäude. Und genau dort konnte es im August 1968 zu einem denkwürdigen Ereignis kommen. Damals war das Waldschlößchen einer der angesagtesten Tanzschuppen der DDR, erinnert sich Gunder Poppe. „Was an DDR-Bands Rang und Namen hatte, musste mal im Waldschlößchen gespielt haben.“

Zur Ruine verkommen: das ehemalige Waldschlösschen.
Zur Ruine verkommen: das ehemalige Waldschlösschen. © Klaus-Dieter Brühl

Der Gohliser war in diesem Sommer vor 50 Jahren gerade volljährig geworden und hatte sein Abitur in der Tasche. „Ob ich gleich anschließend studieren durfte oder doch vorher noch meinen Wehrdienst ableisten muss, stand in diesen Wochen noch nicht fest.“ Jedenfalls habe er nach dem bestandenen Abitur einen tollen Sommer verlebt – und war fast jedes Wochenende im Rockschuppen zu Gast.

Der Einmarsch der Sowjetarmee am 21. August 1968 war allerdings ein Mittwoch. Am Wochenende drauf aber sei im Waldschlößchen wieder viel los gewesen. Viel los war aber auch gleich nebenan in Zeithain: Dort hatte die Sowjetarmee zeitweise drei Panzerregimenter auf dem Areal des Alten Lagers in der Gohrischheide stationiert. Tausende Soldaten übten dort jahrein, jahraus auf einem Schießplatz und einem großen Panzerfahrgelände, dem sogenannten Tankodrom.

Im August 1968 wurde es auch für die Sowjetsoldaten aus Zeithain und Riesa ernst: „An dem Wochenende rollten unentwegt russische Panzer am Waldschlößchen vorbei Richtung tschechische Grenze“, erinnert sich der spätere Reifenwerk-Mitarbeiter. Die Jugendlichen, die über das Westfernsehen informiert waren – über das DDR-Fernsehen hätte man wenig erfahren – hätten während der Veranstaltung verbreitet: „Die Russen überfallen die Tschechei.“ Daraufhin hätten sich im Außengelände des Waldschlößchens spontan Hunderte Jugendliche versammelt, verbal protestiert – und Steine auf die russischen Panzer geworfen. „Ob wirklich daraufhin ein haltender Panzer den Kanonenturm Richtung Waldschlößchen gedreht hat, wie einige sagten, kann ich nicht bestätigen.“ Womöglich könnten sich aber noch andere Jugendliche an die Sache erinnern. „Ich habe auch Steine mit geworfen –  ohne groß nachzudenken. Das war ein Jugendstreich, mehr oder weniger“, sagt Gunder Poppe. Die Stimmung sei eben so gewesen: Man habe im Westfernsehen viel über die 68er jenseits der Mauer gesehen. „Dazu kam noch die Euphorie, weil Stahl Riesa in dem Jahr gerade in die Oberliga aufstieg.“ Politisch ernsthaft drüber nachgedacht habe er bei den Würfen nicht.

„Zwei Monate später bin ich auf einmal ganz still geworden“, sagt der Gohliser. Nach einem Gießerei-Praktikum fing er sein Studium an der Technischen Hochschule Otto von Guericke in Magdeburg an. „Das Erste, was ich erfuhr, war: Studenten der TH aus verschiedenen Semestern waren wegen verbalen und öffentlichen Protestes gegen den Einmarsch der Russen exmatrikuliert worden.“ Poppe selbst bekam es nachträglich mit der Angst zu tun. „Ich habe bis zur Wende selbst meiner Familie nichts davon erzählt.“