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Das Schöne im Vergänglichen

Der Freitaler Thomas Unger fotografiert Industrieruinen und andere verlassene Orte. Dabei riskiert er manchmal Kopf und Kragen.

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© SZ/Thomas Morgenroth

Von Thomas Morgenroth

Freital. Ein Flügel steht aufgeklappt und spielbereit mitten in einem schummrigen und modrigen Festsaal, davor ein Sessel, auf dem der Pianist gesessen haben muss. Es sieht so aus, als wäre der Musiker soeben erst aufgestanden und hätte, eilig die Schöße seines Fracks raffend, nach dem Schlussapplaus fluchtartig den Raum verlassen. Man kann es verstehen: Irgendetwas stimmt hier nicht. Von den Wänden blättert die Farbe, an den Fenstern hängen Papierfetzen, und unter dem zeitlosen Staub des Vergessens verschwindet die Wirklichkeit. Unfassbares liegt in der Luft.

Das letzte Konzert in den Heilstätten Beelitz, 2014.
Das letzte Konzert in den Heilstätten Beelitz, 2014. © Thomas Unger
Kantine im Werk II des Kupplungswerkes in Freital, 2006.
Kantine im Werk II des Kupplungswerkes in Freital, 2006. © Thomas Unger
Eisentreppe in der Bienertmühle Dresden-Plauen, 2005.
Eisentreppe in der Bienertmühle Dresden-Plauen, 2005. © Thomas Unger

Die Szene, die derzeit im Einnehmerhaus Freital zu besichtigen ist, erinnert an den düsteren Endzeit-Klassiker „Stalker“ von Andrei Tarkowski. Die verbotene Zone findet man heutzutage freilich nicht nur im Film, sondern auch in der Wirklichkeit, zum Beispiel in Tschernobyl. So weit musste der Freitaler Fotograf Thomas Unger allerdings nicht reisen. Er lichtete das eingefrorene Konzert 2014 in den einstigen Heilstätten Beelitz in Brandenburg ab, einem damals bereits seit zwanzig Jahren verlassenen Ort. Die sowjetische und zuletzt die russische Armee hatten die Gebäude seit 1945 als Militärlazarett genutzt. 1994 zog sie sich zurück und überließ das weitläufige Ensemble seinem Schicksal.

Ein Wunder, dass das Klavier so lange überlebt hat. In anderen Ruinen ging der Verfall rasanter vonstatten. In der Lederfabrik Freital zum Beispiel, dessen Niedergang Unger mit seinen Kameras seit über zwanzig Jahren begleitet. Außer Teilen der baulichen Hülle ist nichts mehr von dem einst stolzen Unternehmen übrig. Wind und Wetter, aber auch Schrottdiebe und Menschen mit unbändiger Zerstörungswut haben in kürzester Zeit jedes Inventar vertilgt, bis hin zu Türen und Fenstern.

Nun droht der Abriss, ein Schicksal, dass die Lederfabrik mit vielen anderen aufgegebenen Produktionshallen, Werkskantinen oder Büros teilt, die Thomas Unger seit Anfang der Neunzigerjahre mit seiner Hasselblad und einer Mentor-Laufbodenkamera aufgenommen hat. Einiges ist bereits verloren. Seine Ausstellung mit über vierzig Schwarzweiß-Fotografien im Domizil des Freitaler Kunstvereins hat insofern einen hohen Erinnerungswert.

Wobei sich der 57-Jährige nicht als Chronist versteht. Die Erkennbarkeit oder Vollständigkeit der Dinge im Sinne einer Dokumentation spielen für ihn keine Rolle. Er ist eher der Romantiker, der sich für die Ästhetik des Verfalls interessiert, für die Poesie des Morbiden und das Schöne im Vergänglichen. Das weiß er mit natürlichem Licht überzeugend zu inszenieren. Dafür nimmt er sich viel Zeit, manchmal braucht er einen ganzen Tag für ein gültiges Foto. Und riskiert mitunter Kopf und Kragen: Für den besonderen Blick kriecht Unger auch mal durch Kellerfenster oder steigt über hohe Mauern: „Meine Kletterausrüstung habe ich immer dabei.“

Dabei muss er gehörige Lasten an Technik schleppen: Unger, der Autodidakt ist, fotografiert ausschließlich im Mittel- und Großformat und analog. Die Filme entwickelt er selbst, auch die Vergrößerungen stellt er eigenhändig im Labor des Einnehmerhauses her. Unger, der als Versuchsfeldtechniker an der TU Dresden arbeitet, ist mittlerweile ein Fachmann der traditionellen Fotografie, der sogar das anspruchsvolle Zonensystem von Ansel Adams bei der Belichtung der Negative beherrscht.

Unger hat Bunker in Berlin fotografiert, die ruinösen Anlagen des einstigen Raketentestgeländes in Peenemünde oder verlassene Bauernhöfe in Frankreich. In Freital zeigt er vor allem Bilder mit Motiven aus der Region: Wendeltreppe und Rutschen in der Bienertmühle in Dresden-Plauen, verlassene Ställe in der Schweinemastanlage Pesterwitz, Schattenspiele in der Lederfabrik, das Eisenhammerwerk kurz vor dem Abriss oder die Kantine des Kupplungswerkes II in Freital, das dem Technologiezentrum weichen musste.

Ob es den Flügel in den Beelitzer Heilstätten noch gibt, weiß Unger nicht. Nicht nur er hat übrigens den gruseligen Reiz der verfallenen Gemäuer erkannt. Die Band Rammstein zum Beispiel drehte dort ihr Video zum Lied „Mein Herz brennt“ – und Roman Polanski nutzte das einstige Krankenhaus als Kulisse für seinen Film „Der Pianist“. Das Instrument war schon da.

Thomas Unger, Fotografie, bis 23. Juni im Einnehmerhaus Freital, Die.-Fr. 16-18 Uhr, Sa./So. 10-17 Uhr. Internet