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Das Papier der Freiheit

Martin Sedlick aus Eckartsberg hat den Krieg und die Gefangenschaft überlebt. Eine Entschädigung erhielt er nicht.

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© Matthias Weber

Von Thomas Christmann

Er hält ein Papier in der Hand, mit dem sein größter Lebenswunsch in Erfüllung gegangen ist. Martin Sedlick, entlassen am 25. August 1945, Registriernummer 681, steht auf dem Schein geschrieben. Damit ging die sowjetische Kriegsgefangenschaft für ihn zu Ende. Der 86-Jährige erinnert sich noch an die ersten Worte seiner Mutter nach der Ankunft im Elternhaus. „Wie siehst Du denn aus?“, fragte sie ihn. Abgemagert kam er dort an.

Martin Sedlick lebt heute in Eckartsberg. Geboren und aufgewachsen ist der Rentner als eines von sechs Geschwistern in Kreckwitz bei Bautzen. Die Mutter hat als Hausfrau gearbeitet, der Vater in einem Steinbruch. „Eine Knochenarbeit“, sagt Sedlick. Per Hand mussten die Steine bearbeitet werden. Für ihn kam das nicht infrage. Er hat nach der Volksschule in Purschwitz ab April 1942 eine Maurerlehre in Bautzen gemacht. Die Firma lag unmittelbar am Bahnhof. „Räder müssen rollen für den Sieg“ las er an den Zügen. Noch dachte sich Sedlick nicht viel dabei. Doch 1944 musste der damals 16-Jährige zum Kriegsarbeitsdienst, der vormilitärischen Ausbildung. „Wir haben Krieg gespielt“, sagt er. In dem Jahr fiel einer der Brüder mit 19 Jahren in der Sowjetunion. Der Ernst für ihn begann Anfang 1945, als die Einberufung zur Wehrmacht folgte.

Sedlick kam erst in die Kaserne „Wilder Mann“ in Dresden, wo der Ausbilder mit den Soldaten böse Scherze trieb. So schmiss dieser Bonbons auf den Lehmfußboden und forderte die jungen Kameraden unter dem Tenor „Dreck reinigt den Magen und scheuert das Loch“ auf, sie aufzuheben sowie zu essen. Nach acht Tagen brachte ein Zug die Kameraden nach Zlaim in der damaligen Tschechoslowakei, an der Grenze zu Österreich. Dort befand sich die Hauptkampflinie. „Wir mussten die Löcher stopfen“, sagt Sedlick aufgrund der hohen Verluste. Mit einem Soldat bediente er ein Maschinengewehr. Alle 20 Meter befand sich so ein Stand im Schützengraben. Vor den Kameraden lagen Weinfelder. „Wir konnten dadurch schlecht sehen, ob jemand hinter den Reben stand“, berichtet Sedlick. An seinem 17. Geburtstag meldete er sich ab und ging in einen Ort in Österreich. Dort begrüßten ihn die Einwohner mit selbst gebackenen Brot, Speck und Wein. Für ihn ein Erlebnis anderer Art, denn die Verpflegung in der Wehrmacht bezeichnet er als schlecht. Ranzige Butter, Brot und Tee standen auf dem Speiseplan.

Nach 14 Tagen mussten die Deutschen sich zurückziehen, die Rote Armee beschoss die gesamte Hauptkampflinie. „Zu viel Ausfälle“, sagt Sedlick, der sich mit zwei Kameraden auf den Weg machte. Die Flucht verlief ungeordnet, die Drei wollten Pfingsten zu Hause sein. Doch in einem Ort trafen die Soldaten Ende Mai auf eine sowjetische Dolmetscherin, gelangten dadurch in die Kriegsgefangenschaft. Erst in ein Lager in Österreich, zwei weitere in der Tschechoslowakei folgten. Dort sollten eines Tages im August alle Gefangenen unter 18 Jahren drei Schritte vortreten – und damit die Freiheit wieder erlangen. Alle anderen mussten in die Sowjetunion, kaum einer von ihnen kam wieder.

Sedlick traf das nicht. Er fuhr in einen der 20 Lkw mit je 22 Kameraden mit, die im Konvoi die Soldaten bis nach Hoyerswerda brachten. Auf der Fahrt schrieb der damals 17-Jährige eine Nachricht an seine Eltern und schmiss sie in Kubschütz einem Fußgänger zu. Der brachte den Brief dorthin und bat dafür um Essen, wie Sedlick später erfuhr. Er hingegen erhielt in Hoyerswerda sein Entlassungspapier und kam mit einem Güterzug in Bautzen an. Von dort lief der Kreschwitzer nach Hause, vorbei an kaputten Häusern. Die baute Sedlick wieder mit auf, als er im September 1945 seine Lehre in Bautzen fortsetzte und später als Geselle arbeitete. Danach folgte ein erfolgreiches Bauingenieur-Studium in Zittau. Als Investbauleiter arbeitete Sedlick auf großen Baustellen in Ostdeutschland, unter anderem im Kraftwerk Hagenwerder. Er wechselte 1967 in die Jute-Spinnerei Olbersdorf, kümmerte sich bis zu seinem Vorruhestand 1990 um den Erhalt der Gebäude. Ein Jahr zuvor zog Sedlick in sein Haus nach Eckartsberg, lebte zuvor mit Frau und zwei Kindern in Zittau.

Nach der Wende hoffte der heute 86-Jährige als Kriegsheimkehrer auf eine Entschädigungszahlung durch den Bund. Jahrelange schriftliche Auseinandersetzungen brachten nichts. Der Grund: Geld erhalten nur alle, die über 1946 hinaus in sowjetischer Gefangenschaft bleiben mussten. Nur das soll trotz der hohen Zahl völkerrechtlich bedenklich gewesen sein. Für Sedlick ist das unverständlich und politisch, da nach seiner Aussage Westdeutsche früher eine Entschädigung erhielten. Er hat den behördlichen Kampf inzwischen aufgegeben. Aber die Erinnerung an den Krieg bleibt. „Wir haben als Jugendliche wenig über den Sinn gesprochen “, erzählt er. „Man schwor den Eid“, berichtet er und sagt aus Pflichtgefühl mitgemacht zu haben. Heute sieht der Eckartsberger jeden Krieg als sinnlos an und fordert alle Regierungen auf, diplomatische Lösungen zu finden. „Das Elend ist zu groß“, so Sedlick. Er selbst hat auch ein Ziel: 90 Jahre werden. Das sei ein stolzes Alter, sagt er.