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Das Missverständnis

Ein junger Syrer durfte seine Eltern nach Deutschland nachholen – doch sie gingen schon nach kurzer Zeit zurück nach Kairo. Sie haben sich hier unwohl gefühlt.

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© dpa

Ulrike von Leszczynski und Benno Schwinghammer

Du lächelst. Das ist anders als bei vielen Deutschen“, sagt Wedad Haschim. Die Syrerin kennt sich aus, sie hat in Deutschland gelebt. Familienzusammenführung, anerkannter Flüchtlingsstatus und eine Wohnung in Berlin statt Krieg in der Heimat. Ein Traum? Nicht für Haschim und ihren Mann. Nach einigen Monaten gingen sie freiwillig zurück in den Nahen Osten, nach Kairo. Warum? „Es gab keinen Vorbereitungskurs darauf, wie Deutsche sind“, sagt Haschim. Ihre Söhne sehen das anders. Sie bauen sich ihr Leben auf – in Deutschland.

Draußen, hinter staubigen Fenstern, fällt das Licht auf eintönige Kairoer Arbeiterhäuser. Von den Balkonen hängt Wäsche. Drinnen, im Wohnzimmer, beginnen Haschim und ihr Mann Abdel Rasak Al-Najim auf Arabisch zu erzählen, wie das begann, was sie heute „das Missverständnis“ nennen.

In Berlin sitzt ihr Sohn Ahmed zu dieser Zeit in einem Schöneberger Café. Das Licht fällt auf schicke Altbaufassaden. Ahmed ist 16. Auch er möchte diese Familiengeschichte erzählen – auf Deutsch. „Ich könnte jetzt hier leben“, sagt er. Seine Pläne für die Zukunft klingen konkret. Nach der zehnten Klasse möchte er in Deutschland eine Ausbildung zum Steward machen. Wenn er dann keinen gut bezahlten Job findet, will er ein paar Jahre nach Saudi-Arabien, zum Geldverdienen. Aber danach für immer – auf jeden Fall Deutschland.

Ahmed ist einer von rund 60 000 Flüchtlingen, die in den vergangenen Jahren als Teenager allein nach Deutschland gekommen sind, ohne ihre Eltern. Es gibt keine zentralen Statistiken, was aus ihnen wird. Einzelheiten sind Sache der Berliner Bezirke. Sie organisieren für die Teenager Wohngemeinschaften mit Betreuern.

Ein Platz in einer Willkommensklasse zum Deutschlernen ist garantiert, der Schulabschluss gilt als „wichtiges Ziel“. Und, klappt das? Das Landesjugendamt kann auch diese Frage nicht beantworten. Bundesweit ist noch nicht einmal die Schulpflicht in den 16 Bundesländern einheitlich geregelt.

Sommer 2014, Kairo. Wie andere Flüchtlingsfamilien träumt Wedad Haschims Familie, die ursprünglich aus dem ostsyrischen Dair as-Saur stammt, von einem besseren Leben. Vor dem Krieg gehörte ihnen ein Bekleidungsgeschäft in Damaskus. Nun leben die Eltern mit zwei Töchtern und Söhnen schon zwei Jahre im Exil in Ägypten, das Geld ist knapp. Andere Flüchtlinge erzählen ihnen von den Booten nach Europa. 2 200 Dollar verlangten die Schlepper pro Person. Die Söhne wollen weg. „Also versammelte sich die ganze Familie und verkaufte ihren Schmuck“, sagt die Mutter.

Acht Tage seien seine Söhne auf See gewesen, ergänzt Vater Al-Najim. Er habe diese acht Tage lang geweint. Bis Mohammed, 25, anrief. Zusammengepfercht auf dem Boot seien Nahrung und Wasser ausgegangen, schließlich der Sprit. Ein chinesisches Schiff habe sie gerettet und nach Italien gebracht. „Wir haben Glück gehabt“, sagt Ahmed in Berlin. Warum wollte er weg? „Ich habe 14 Stunden am Tag in einem kleinen Laden in Kairo gejobbt. Ich wollte zur Schule gehen“, antwortet er. Die Schulpflicht in Ägypten endet im Alter von 12 Jahren. Und warum Berlin? „In Italien haben sie uns gesagt: Geht lieber nach Deutschland.“

Ich möchte. Das waren die ersten deutschen Worte, die Ahmed lernte. Es war eine Zeit, in der er nicht sicher war, ob er es schaffen würde in diesem fremden Land. Er spricht zu der Zeit nur Arabisch. „Am Anfang habe ich mich sehr einsam gefühlt.“ Er vermisst seine Eltern. Im Fernsehen sieht er die Kriegsbilder aus Syrien, in seinem Kopf dreht sich alles.

Statt in eine Notunterkunft wie sein großer Bruder zieht Ahmed als Schützling des Jugendamts in eine Wohngruppe im beschaulichen Zehlendorf. Deutsch habe er vor allem von seinem Betreuer gelernt. „Nach sechs Monaten konnte ich schon viel“, sagt er stolz.

Heute spricht er fast fließend. Er schafft den Sprung auf eine Sekundarschule – die Berliner Kombi aus Haupt- und Realschule. Dass Jungen und Mädchen hier in eine Klasse gehen, findet Ahmed „ganz ok“. Bewegt hat ihn etwas anderes. „Dass ich hier sagen kann, was ich denke“, antwortet er spontan. „Früher musste ich sehr aufpassen, was ich sage.“ Ahmed weiß von Anfang an, was er möchte - Mama und Papa. Im Zuge seines Asylverfahrens bekommt er die Erlaubnis, seine Eltern nachzuholen.

Das ist selten. Bis Ende 2016 lebten nach Angaben des Bundesfachverbands nur knapp 2 000 Eltern in Deutschland, die minderjährigen jungen Flüchtlingen nachgezogen sind. Ihr Aufenthaltsstatus ist sehr wackelig. Werden die Kinder volljährig, ändert sich alles. Wer dann noch nicht auf eigenen Füßen steht, muss im Zweifelsfall wieder gehen.

In Kairo sucht Wedad Haschim im Internet nach Bildern aus Deutschland. Sie ist entzückt von Seen, verwinkelten Dörfern und Großstadtflair. „Das sah alles so schön aus.“ Als sie am Flughafen in Berlin ankommen, sind Ahmeds Eltern überrascht, wie gut alles organisiert ist. Die Behörden erwarten sie.

Wedad Haschim absolviert bald einen Schneiderkurs, findet marokkanische und andere arabische Freunde. Ihr Mann geht zum Beten in die Moschee und besucht gern ein syrisches Café. Doch sie fühlen sich fremd. „Die Deutschen haben eine eigene Art“, meint Haschim. „Sie sind wie Roboter.“ Sie vermisst das Gewusel auf den Straßen, Begegnungen, die Nähe zu anderen Menschen.

Ihr Mann, Abdel Rasak Al-Najim, bittet Passanten beim Lösen eines U-Bahntickets um Hilfe, doch sie gehen wortlos weiter. „Danach habe ich nicht mehr gewagt, jemanden zu fragen.“ Beim Picknick im Park bietet er Nachbarn auf der Wiese etwas zum Essen an – eine typische Geste arabischer Gastfreundschaft. Niemand nimmt etwas an. Der Syrer spürte Abwehr, als habe er etwas Verbotenes getan. Als Al-Najim auf einem Spielplatz seine Hand nach einem Kind ausstreckt, um mit ihm zu spielen, verbietet die deutsche Mutter das fast panisch.

Am Ende hat der Familienvater nur eine Erklärung für das Missverständnis mit diesem Land, für das seine Söhne ihr Leben riskierten: „Viele Deutsche mögen Araber nicht“, bilanziert er. Als das Ehepaar auf Einladung ihrer Tochter, die in Ägypten geblieben ist, im Flugzeug sitzt und den Beton-Moloch Kairo unter sich sieht, fühlt sich das an wie eine Heimkehr.

Mohammed, der große Bruder, entscheidet anders. Er kann seine Frau und die beiden Kinder nach Deutschland holen. Ein drittes Baby kommt in Berlin zur Welt. Und Ahmed will auch nicht zurück nach Ägypten. „Meine Eltern sind schon alt“, sagt er fast entschuldigend. „Sie sind 45 und 52.“ Vielleicht sei es dann nicht mehr so einfach, sein Leben zu ändern. Er hält Verbindung per Handy. Natürlich vermisse er die Eltern, sagt er. Trotzdem hat Ahmed für die Zukunft eine klare Botschaft an Mama und Papa: „Kommt nicht wieder her. Oder bleibt hier.“

Einfach sei die Situation für Ahmed nicht, sagt sein Betreuer Jörn Kriehmig vom Berliner Verein Wege ins Leben. Zwei Jahre lang habe Ahmed für das Ziel gekämpft, die Eltern nach Berlin zu holen. Nach ihrer Abreise sei er in ein großes Loch gefallen. Für Kriehmig hat sich Ahmed dennoch großartig entwickelt. Er kennt seinen Weg fast von Anfang an. „Erst einmal war es eine klare Überforderung, hier mit 14 auf sich selbst gestellt zu sein“, sagt er. Keine Eltern, denen in der arabischen Kultur großer Respekt gebührt und die das Leben ihrer Kinder bis in die Einzelheiten planen. „Es gab schwierige Phasen mit ihm, besonders beim Thema Respekt“, sagt Kriehmig.

Er sieht die Doppelbelastung: Wie jeder Teenager schwanke Ahmed zwischen den Welten Kind und Erwachsensein hin und her. Aber er bewege sich zusätzlich permanent zwischen zwei Kulturen – verschiedenen Rollenmodellen und Werten. „In Phasen der Desorientierung schlägt er dann auch manchmal über die Stränge“, ergänzt der Betreuer. Er ist noch nicht sicher, ob Ahmed nach den Ferien die zehnte Klasse schaffen wird. „Er ist noch nicht ganz zuverlässig und verantwortungsbewusst, was den Schulbesuch angeht“, sagt Kriehmig.

Bei kulturellen Fragen werde es ab und zu kritisch. „Toleranz, auch gegenüber Homosexualität, und dass die Familie in Europa nicht den ersten Platz einnimmt – das alles sind lange Lernprozesse“, sagt Kriehmig. „Es geht um den Umgang mit Trauer und Wut und auch um die Rolle des Mannes in der Gesellschaft.“ Manchmal will Ahmed ganz schnell heiraten.

Was seine Betreuer freut, ist, dass Ahmed viel offener geworden ist. Und auch schon sehr bedacht, manchmal. Für sie ist seine Entwicklung insgesamt guter Durchschnitt. Es gibt junge Syrer, die ihren Weg zielstrebiger gehen.

„Zeitgleich mit Ahmed ist ein Junge gekommen, der jetzt gerade sein Abitur macht und Pilot werden möchte“, sagt Jörn Kriehmig. Doch das ist kein Wettbewerb. „Ahmed wird hier bleiben. Er hat so viel in Deutschland investiert.“ (dpa)