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Das Mädchen von der Albertbrücke

Eine 85-Jährige stand als Kind Modell. Jahre später sah sie erstmals das Kunstwerk.

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Von Peter Hilbert

Elly Hödasch steht am Königsufer. Auge in Auge mit sich selbst. Allerdings ist die Striesenerin jetzt 85, ihr anderes Ich erst acht Jahre alt. In der Mitte eines Sandsteinreliefs, hinter verdorrten Zweigen, ist ein Mädchen mit Zöpfen zu sehen, daneben ein Junge mit einem Spielzeugschiff in der Hand. Zudem sind Männer mit Pferden beim Durchqueren einer Furt sowie Elbefischer dargestellt. Der in Dresden geborene Bildhauer Hermann Alfred Raddatz hatte 1936/37 das Kunstwerk geschaffen. Elly Hödasch und ihr älterer Bruder Rudolf standen ein Jahr zuvor Modell dafür.

Nach Jahren steht Elly Hödasch wieder vor dem Relief an der Albertbrücke, auf dem sie als Mädchen (r.) abgebildet ist. Foto: Sven Ellger
Nach Jahren steht Elly Hödasch wieder vor dem Relief an der Albertbrücke, auf dem sie als Mädchen (r.) abgebildet ist. Foto: Sven Ellger

In den Augen der alten Dresdnerin stehen Tränen. Lange war sie nicht mehr hier. Doch als die Sächsische Zeitung in ihrer Brückenserie über das Relief berichtet, schießen ihr wieder all die Bilder aus ihrer Kindheit in Gruna durch den Kopf. „Der Bäcker, der Konditor, der Fleischer und der Bildhauer Raddatz“, zählt sie auf. Elly Raddatz wohnte mit Eltern und drei Geschwistern auf der Wiesenstraße, gleich neben der Bodenbacher, wo Raddatz‘ Haus stand.

Zwei Reichsmark für langes Stehen

Mit einem Einkauf ihrer Mutter im Laden um die Ecke fängt alles an. „Frau Raddatz suchte ein Mädchen und einen Jungen, die Modell stehen können“, berichtet sie. Da schickte die Mutter Elly und Rudolf gleich vorbei. An den ersten Besuch erinnert sich die Seniorin noch genau. Es war ein Sonnabend, 14 Uhr. Frau Raddatz ließ die Kleine in das von Mauern umgebene Häuschen unweit des Großen Gartens ein. Da stand sie nun mitten im großen Atelier. „Herr Raddatz war ein schöner Mann, der aber fast nichts sagte“, blickt sie zurück. Fast zwei Stunden musste das Mädchen mit seinen dicken Zöpfen stehen, während der Künstler ihre Konturen in Sandstein meißelte. Vier- oder fünfmal ging sie zu Raddatz. „Das war anstrengend“, weiß Elly Hödasch noch heute. Am Ende gab es als Lohn zwei Reichsmark. Wohin das Kunstwerk kommt, sagte dem Mädchen keiner.

Das Sandsteinrelief gehörte zum großen Konzept von Stadtbaurat Paul Wolf, erläutert der Dresdner Hobbyhistoriker Frank Wache. Den Entwurf setzte der Architekt während der 1930er-Jahre im entsprechenden Zeitgeist um. Dabei wurde der Abschnitt zwischen der Marienbrücke bis hin zum Pavillon am Waldschlößchen mit dem Glockenspielpavillon, dem Rosen- und dem Staudengarten und auch den Sandsteinreliefs an der Albertbrücke gestaltet. Doch davon erfuhr Elly Hödasch erst viel später.

Aufregende Jahre folgten für das Mädchen. Sie absolvierte ihre Lehre im kleinen Textilkaufhaus Schön an der Ecke Bodenbacher/Zwinglistraße. Glück im Unglück hatte die 17-Jährige beim Bombenangriff auf die Stadt. Ihr damaliger Freund Wolfgang war als Flieger in der Nickerner Kaserne stationiert. „Er wurde versetzt. Da fuhr ich zur Kaserne, um mich zu verabschieden“, erzählt sie. Und das am 13. Februar 1945. Als sich das Mädchen von ihrem Freund verabschiedete, habe sie aus der Ferne schon ein leises Brummen gehört.

Kunstatelier von Bomben zerstört

Straßenbahnen fuhren nicht mehr. Also lief sie zum Bahnhof Niedersedlitz, stand in der Kälte. Da kamen die Bomber. Der Himmel wurde rot. Sie konnte sich in einen nahe gelegenen Luftschutzkeller retten. Zu Fuß eilte Elly Hödasch nach Hause. Ein Bild der Zerstörung bot sich in Gruna. Das Haus von Raddatz war zerstört, auch andere Villen. Das kleine Haus der Eltern stand aber noch. „Nur die Scheiben waren kaputt“, sagt sie. „Wir hatten wenigstens noch ein Dach über dem Kopf.“ Was aus Raddatz geworden ist, weiß sie nicht. Nach SZ-Recherchen hat der 1907 geborene Künstler bis 1983 gelebt.

Die Grunaerin wurde Trümmerfrau, beräumte unter anderem das zerstörte Heizhaus an der Hepkestraße. Sie heiratete ihren Mann Johannes, bekam zwei Kinder. Später arbeitete die Dresdnerin in der Zigarettenfabrik und bei Robotron.

Bei einem Spaziergang mit ihren beiden Kindern am Königsufer holte sie in den 1950er-Jahren ihre Vergangenheit ein. An der Albertbrücke entdeckte Elly Hödasch das Relief. „Da dachte ich: Ei Gott, das bin doch ich“, erinnert sie sich. Das Kunstwerk am Elbufer wurde zum gefragten Familienziel. Ihre Kinder nahmen Freunde mit hin. Wenn mit Schwager und Schwägerin Westbesuch aus Schleswig-Holstein nahte, stand der Spaziergang zur Albertbrücke fest auf dem Plan.

Sie freut sich, wie schön Dresden in den vergangenen Jahren geworden ist. „Ich hänge an der Stadt. Ich wäre hier nie weggezogen“, bekennt Elly Hödasch. Mit der Geschichte ist sie eng verbunden. „Und ich bin ein kleiner Teil davon“, erzählt die Ur-Dresdnerin, als sie gerührt vor ihrem Sandsteinrelief steht.