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Das Herz schlägt für Sachsen

Benjamin Kirsten ist erst 31 Jahre. Und trotzdem schon eine Legende. Beim Fußballabend erbringt er den Nachweis dafür.

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© Anne Hübschmann

Von Thomas Riemer

Schönfeld. Immer wieder blickt Holger Hansel auf den Eingang von Schloss Schönfeld. Freundliche Helfer haben dem Rollstuhlfahrer ins Foyer geholfen. Der Großenhainer hat sich extra zum Fußballabend fahren lassen, auch wenn er das muntere Gespräch von Moderator Gert „Zimmi“ Zimmermann mit Benjamin Kirsten später nicht verfolgen kann. Denn einen Fahrstuhl im Schloss gibt es leider (noch) nicht. Und doch wartet Holger Hansel geduldig, um ein Autogramm des Torhüters zu bekommen. „Benny ist mein Lieblingsfußballer, weil er mal bei Dynamo gespielt hat“, sagt er. Schon einmal, beim Super-Regio-Cup in Riesa, konnte er mit ihm sprechen.

Und dann kommt der mit 1,82 Meter eher kleine Torwart. „Ich freue mich immer, wenn ich Dynamo-Fans treffe“, sagt Benjamin Kirsten und gibt die ersehnte Unterschrift auf Hansels Autogrammkarte. Seine Fußball-Zeit in Elbflorenz ist zwar abgehakt, doch der gebürtige Riesaer, Sohn von Ulf Kirsten, wohnt heute in Bannewitz und pendelt täglich nach Leipzig. Die Messestadt ist seine jetzige Fußballheimat, Lok Leipzig sein Verein. Der befindet sich gerade in schwerem Fahrwasser, hat nach schwachem Saisonbeginn Trainer Heiko Scholz entlassen. „Eine total bittere Sache. Scholle war für viele im Team eine Vaterfigur. Und ohne ihn hätte ich das Abenteuer Leipzig nie begonnen“, so Benny Kirsten.

Aber was heißt das schon. Die Karriere des heute 31-Jährigen fühlt sich eh an wie ein einziges Abenteuer. „Ich habe viel von meinem alten Herrn in die Wiege gelegt bekommen“, spielt Benny auf Vater Ulf an. Der gehörte in den 1990er Jahren zu den besten Stürmern Deutschlands, war über die Stationen Riesa und Dynamo nach Leverkusen gekommen, erst als Spieler, dann als Trainer. Das „Dynamo-Gen“ aber übertrug sich auf Benjamin. Ausgerechnet gegen Dresden verlor der damals junge Keeper bei seinem Drittliga-Debüt mit Leverkusens Zweiter aber mit 1:4. Das Szenario war dennoch „absolut scharf. Für mich gab es nichts Cooleres“.

Nach 17 Jahren Bayer Leverkusen wagte er 2008/09 den Schritt „weg von zu Hause“ und Trainervater Ulf. Nach kurzem Gastspiel beim SV Waldhof/Mannheim sei er „einfach zu Dynamo gefahren. Das war das Beste, was ich machen konnte.“ Unter Trainer Matthias Maucksch entwickelte sich der Keeper prächtig. Doch mit Marcus Hesse und Axel Keller hatte er starke Konkurrenz vor sich. Gerade Keller „fand den Konkurrenzkampf nicht so toll. Und Maucksch hat erst einmal auf Erfahrung gesetzt.“ Benny Kirsten durchlebte ein viermonatiges Loch, unterlag in seinem ersten Spiel als Dynamo-Torwart 1:4 gegen den SV Sandhausen und war mit zwei Fehlern nicht ganz unschuldig daran. Anlass genug, sich einen Mentaltrainer zu nehmen. „Das war entscheidend für meine Entwicklung“, blickt er auf nunmehr fast zehn Jahre Zusammenarbeit zurück. Er habe gelernt, Angst und Hemmungen durch Techniken zu bewältigen. Und Kirsten wirbt zugleich: „Torhüter müssen auch mal ein Tal durchlaufen dürfen.“

Auf Trainer Maucksch folgten Loose, Pacult. Benjamin Kirsten erlebte unter anderem die erste Relegation gegen den VfL Osnabrück. In der Verlängerung schossen die Dresdner den Konkurrenten in die 3. Liga. „Es war ein Tanz auf der Rasierklinge, aber emotionsmäßig ein geiles Jahr unter Peter Pacult.“ 2. Liga – und das mit Dynamo! Benny würde es genau so wieder machen, auch wenn man „im Osten in der 2. Liga nicht reich wird. Aber das ist nicht wichtig.“.

Und dann kam Uwe Neuhaus. Einer mündlichen Vertragsverlängerung folgte keine schriftliche – der neue Trainer „wollte mich nicht“. Im April 2014 erfuhr Benny Kirsten von Dynamo-Geschäftsführer Ralf Minge davon. „Daran ist die über 30-jährige Freundschaft von meinem Papa zu Ralf zerbrochen“, erzählt er dem erstaunten 70-köpfigen Publikum im Schönfelder Schlosssaal.

„Alles, was nach Dynamo kam, ist wie ein Kinofilm.“ Benjamin Kirsten, quasi auf dem Gipfel seiner Karriere, blickte nach vorn – und meldete sich erst mal beim Arbeitsamt. Zu jener Zeit sei viel in seine Situation hineininterpretiert worden. Ein Probetraining beim dänischen Odense BK habe ihm „nicht so gefallen“. Beim holländischen Erstligisten NEC Nijmegen wurde er danach schnell die Nummer 1 im Kasten und sogar „Bester Spieler“. Vorzeitiges Vertragsende dennoch kurz vor Weihnachten 2015, „weil man Zweifel an meiner damaligen Knieverletzung hatte“. Unter acht Angeboten der nächsten Monate kam nach einigen Wirren tatsächlich ein Gastspiel beim heutigen Schweinsteiger-Klub Chicago Fire in den USA zustande. Eine erneute schwere Verletzung beendete die „geile Zeit“. Wieder vier Monate Pause und ohne Verein. Dann rief Heiko „Scholle“ Scholz an. 15 Spiele mit dem Lok-Torwart Benjamin Kirsten endeten vergangene Saison zu Null! Dass er zuletzt den Lokschern wegen einer Verletzung wieder nicht helfen konnte, grämt den Familienvater ungemein. Nach zehn Wochen „bin ich wieder da“. Auch wenn der angestrebte Aufstieg in die 3. Liga wohl nicht mehr zu schaffen ist, soll wenigstens im Sachsenpokal noch Zählbares herausspringen.

Bennys Herz schlägt für Sachsen. „Ich habe für die größten Vereine hier gespielt“, sagt er. Mit seinen Emotionen polarisiert er zuweilen – zum Beispiel, als er nach dem Pokalsieg 2009 mit Dynamos Zweiter gegen den VFC Plauen mit einem brennenden Bengalo über den Platz lief und dafür sogar ein Stadionverbot in Leipzig erhielt. „Eigentlich wollte ich nur, dass ein Hubschrauber landet“, sagt er und sorgt für schallendes Gelächter im Saal.

Ja, mit 31 denkt er auch schon mal über ein Leben nach dem Fußball nach. Doch das geht so nicht. Torwarttrainer zu sein, könne er sich vorstellen, „auch wenn meine Frau da mit den Augen rollt“, weil er wieder keine freien Wochenenden hätte. Seit 2012 sind die beiden verheiratet, haben eine siebenjährige Tochter. Sie hat jüngst rosa Fußballschuhe für den Papa ausgesucht. Inklusive Publikum kommt am Schluss Gert Zimmermann ins Prusten: „Was für ein launiger Abend – und das ohne eine einzige Worthülse.“