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Das große Problem im Behindertensport

Jeder Athlet hat eine andere Beeinträchtigung, die sich unterschiedlich auswirkt. Wie also stellt man Gerechtigkeit her?

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© dpa

Von Ronny Blaschke

Die paralympische Leichtathletik ist eine Welt der Reizüberflutung. Das ließ sich in der vergangenen Woche bei den Europameisterschaften im Jahn-Sportpark in Berlin wieder sehr gut beobachten, vor allem auf der Haupttribüne, wo die Zuschauer selten in die gleiche Richtung schauen. Es wird gelaufen, gestoßen, gesprungen. Die Stimmen der Stadionsprecher gehen ineinander über. Sie kündigen Namen und Finals an, dazu Buchstaben und Nummern der Startklassen, insgesamt 600 Athleten in 182 Wettbewerben. Zuvor bei der Europameisterschaft der Nichtbehinderten waren es fast dreimal so viele Sportler – aber nur 48 Wettbewerbe.

Die Zuschauer haben dabei immerhin den wichtigsten, aber relativ kurzen Abschnitt des paralympischen Alltags gesehen: den internationalen Wettkampf. Die Voraussetzung dafür ist die Einteilung in Klassen, denn jede Behinderung ist anders.

Alle Beteiligten wünschen sich Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit. Sie möchten keinen Sport, in dem die geringste Beeinträchtigung immer zum Sieg führt. Diese Klassifizierung ist eine Wissenschaft, es wird diskutiert, gestritten, und ja, auch betrogen. Das Publikum bekommt davon wenig bis nichts mit, am Ende gibt es dann eben 182 Wettbewerbe mit eigenartig anmutenden Bezeichnungen. T 44 zum Beispiel oder F 15.

T steht dabei für Track, also Lauf- und Sprungdisziplinen, F für Field, die Wurf- und Stoßdisziplinen. Und je niedriger die Nummer, desto größer die Behinderung. Bei den Paralympics 2016 in Rio gab es deshalb allein bei den Männern 16 Finals über 100 Meter. Die Frage ist bloß, ob das der Bewegung langfristig hilft.

Die größten Herausforderungen bestehen für die Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen. Das Internationale Paralympische Komitee (IPC) unterscheidet in drei Arten von Behinderungen: körperliche, geistige und Sehbehinderung. In der Para-Leichtathletik gibt es überdies sechs große Cluster, Gruppen für ähnliche Behinderungen, erläutert Frank-Thomas Hartleb, Sportdirektor des Deutschen Behindertensportverbandes: Menschen mit Amputationen haben ebenso ihre eigenen Wettkämpfe wie Rollstuhlfahrer. Innerhalb dieser Cluster gibt es viele Unterteilungen. Es macht eben einen Unterschied, ob eine Hand amputiert wurde oder beide Arme. So kommt man in der Leichtathletik auf 52 Wettkampfklassen.

Klassifizierung-Tests wie Doping

Das Schwimmen folgt dagegen der „funktionellen“ Klassifizierung. Dort werden die individuellen Beeinträchtigungen mit den Anforderungen des Sports abgeglichen. Im Wasser kann ein Athlet mit neurologischer Störung ähnlich schnell sein wie einer ohne Beine oder mit einer Spastik, demnach können und sollen sie auch gegeneinander antreten. Durch diese Zusammenführung unterschiedlicher Behinderungen konnte das Wettkampfprogramm im Schwimmen reduziert werden. Aber die Klassifizierung ist anspruchsvoller – und anfälliger für Manipulationen.

Alle paralympischen Athleten müssen sich regelmäßig untersuchen lassen, auch jene, deren Gesundheitsbild sich nicht ändert. Viele von ihnen empfinden das als entwürdigend: Körpermessungen, Röntgenbilder, Muskeltests. Bei amputierten Sportlern ist die Einstufung einfach, bei sehgeschädigten schwerer, kompliziert wird es bei einer geistigen Behinderung: ein Intelligenztest ist nötig, die Wettkampfklassen trennt ein IQ-Punkt.

Sie alle müssen im Test nachweisen, wozu sie körperlich in der Lage sind. Frank-Thomas Hartleb geht davon aus, dass bei mehr als neunzig Prozent der Sportler alles korrekt abläuft. Doch es ist ein offenes Geheimnis, dass sich etliche Teilnehmer in den Tests weniger verausgaben als dann in den für sie leichteren Startklassen. Daher bezeichnen manche die Klassifizierung als „Doping des Behindertensports“.

Das Internationale Paralympische Komitee möchte dieses Feld weiter professionalisieren und stößt auf viele Interessen. Immer wieder reichen Nationalverbände Einsprüche gegen Klassifizierungen von konkurrierenden Athleten ein. Immer wieder fordern Lobbygruppen für seh- oder körperbehinderte Menschen mehr Startklassen. Immer wieder stellen sich Athleten den Tests und erhalten unterschiedliche Ergebnisse. Einige sind deshalb zurückgetreten. „Wir brauchen Klassifizierungszentren, wo alle Sportler mit einer ähnlichen Behinderung unter den gleichen Voraussetzungen getestet werden“, sagt Jörg Frischmann, Geschäftsführer für Behindertensport bei Bayer Leverkusen.

Das mag in Europa zu realisieren sein, aber in Regionen, wo der Behindertensport am Anfang steht?

Die Paralympier können lange und hitzig über diese Unschärfen diskutieren – mehr Sponsoren und höhere TV-Quoten erhalten sie dadurch nicht. Das IPC möchte mehr Startklassen zusammenlegen und das Programm für Laien verständlicher machen. Und das manchmal mit radikalen Schritten wie im Wintersport. Dort gibt es nur noch die Klassen der sitzenden und der stehenden Athleten. Individuelle Nachteile werden mit Zeitgutschriften auf der Strecke ausgeglichen. Bei einer alpinen Abfahrt, wo man nacheinander startet, mag das funktionieren. Aber der 100-m-Sprint würde leiden, wenn der Erste nicht auch der Sieger ist.

Nicht nur in Deutschland suchen Sportverbände ehrenamtliche Trainer und Betreuer. Die Anwerbung und Ausbildung von Klassifizierern erfordert zusätzlich Energie. Der deutsche Behindertensportverband hat eine Expertin eingestellt, die das Netzwerk zu Medizinern und Physiotherapeuten erweitern soll. Und auch einige Landesverbände denken über eine Aufstockung nach.

Fakt ist: Bei den nächsten Paralympics in Tokio 2020 wird es wieder mehr als 500 Entscheidungen geben, ein Drittel davon in der Leichtathletik.