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Das Geheimnis der Zauberkugeln

Im Uferpark in Görlitz treffen sich regelmäßig ganz unterschiedliche Menschen zum Boulespielen. Nur ein Wunsch ist noch offen.

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© pawelsosnowski.com

Von Frank Seibel

Mit einem Mal ist das Schweinchen Nebensache. Frauen und Männer mit Stahlkugeln in den Händen stehen vor der Ziegelwand des einstigen Kondensatorenwerkes. Ratlos. „Wann geht’s denn weiter?“, fragt einer. Schulterzucken. „Der Mathe-Uwe sucht irgendwas“, will ein anderer beobachtet haben. Und tatsächlich: Der Mathe-Uwe kriecht die Uferböschung entlang, suchend. Ecki, Rudi und Andreas stehen auch im hohen Gras. Als der Mathe-Uwe mal eben austreten war hinter der alten Fabrik, da ist hinter ihm etwas ins Gras geplumpst. Ein Vögelchen? Das Schweinchen ist vergessen. Denn das ist eh nur eine kleine rote Holzkugel. Im Gras aber vermuten die Männer ein echtes Vögelchen, vielleicht verletzt, vielleicht noch am Leben.

Martin Silkeit (l.) vom Nabouleon-Verein ist der Gemütlichkeitsbeauftragte beim Turnier an der Neiße.
Martin Silkeit (l.) vom Nabouleon-Verein ist der Gemütlichkeitsbeauftragte beim Turnier an der Neiße. © pawelsosnowski.com
Martin Silkeit (l.) vom Nabouleon-Verein ist der Gemütlichkeitsbeauftragte beim Turnier an der Neiße.
Martin Silkeit (l.) vom Nabouleon-Verein ist der Gemütlichkeitsbeauftragte beim Turnier an der Neiße. © pawelsosnowski.com

Das sollte sich mal jemand bei einem anderen Spiel trauen: einfach vom Feld gehen und irgendwas suchen. Beim Fußball undenkbar. Aber dieses Spiel ist anders. Und die Leute hier sind anders. An diesem sonnigen Novembertag wird zwar eine richtige Boule-Meisterschaft ausgetragen. Aber das ist kein Anlass zur Hektik.

Die Ruhe, scheint’s, ist das Maß aller Dinge. Sonst hätte sich Martin Silkeit vor knapp zwei Jahrzehnten kaum zu diesem Sport hinreißen lassen – wenn man das denn Sport nennen kann. Ins Schwitzen kommt jedenfalls keiner. Aber Schach gilt ja auch als Sport.

Martin Silkeit stammt aus Hamburg, und das hört man auch sofort. „Hamburch“ wiederum ist recht weit von der Welt entfernt, in der dieses Spiel eigentlich zuhause ist. Das klassische Bild: Eine handvoll älterer Herren auf einem harten Sandplatz in einer kleinen Stadt, ein paar Bäume spenden Schaden, eine Flasche Rotwein spendet die passende Lockerheit zum Werfen und für die Diskussion nach jedem Wurf. Ist die letzte Kugel nahe genug ans Schweinchen gerollt? Und wie kommt der Gegner wohl am besten noch ein Stück näher an die kleine Holzkugel?

Nord, Süd, Ost und West vereint

An diesem Tag hält sich Martin Silkeit raus aus dem Wettkampfgeschehen. Der Mann mit der Landskron-Kappe ist an diesem sonnigen Herbsttag für die Atmosphäre und fürs allgemeine Wohlbefinden zuständig. Über einer Feuerschale ein gusseiserner Wassertopf. Da kommen bald fünf Kilo Nudeln rein. Ein kleinerer Topf ist für die Tomatensoße. Und die Kiste heimisches Bier ersetzt den Rotwein. Wir sind ja hier an der Neiße, nicht an der Loire.

Immerhin war es aber eine echte Französin, die Ende der 1990er Jahre Sprache und Kultur ihrer Heimat nach Görlitz getragen hat. Catherine le Noane hatte 1999 das erste Boule-Turnier auf dem Elisabethplatz organisiert; Martin Silkeit hat damals an einem Sprachkurs teilgenommen und sich von der Begeisterung fürs urfranzösische Spiel anstecken lassen.

Eine feste Boule-Szene hat sich damals in Görlitz nicht gebildet. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Initiatorin Görlitz längst verlassen hat. Stattdessen gründete sich in Reichenbach ein richtiger Verein, der sich augenzwinkernd „Nabouleon 1814“ nennt – in Anlehnung an den französischen Kaiser Napoléon, der sich im Frühjahr 1813 zwischen Reichenbach und Markersdorf eine dramatische Schlacht mit russischen Truppen geliefert hatte.

Seit in Görlitz neben dem alten Kondensatorenwerk vor fünf Jahren der Uferpark eröffnet wurde, gibt es hier nun aber einen perfekten Platz für dieses Spiel, bei dem die Qualität des Bodens eine entscheidende Rolle spielt. „Lesen“ müsse man den Boden, mit all seinen Dellen und kleinen Steinchen, sagt Martin Silkeit. Eckehard Kallweit hat viel gelesen in seinem Leben. Aber das mit dem Boden sei doch besonders schwierig. „Sobald die Kugel die Hand verlässt, führt sie ihr eigenes Leben“, sagt der Ingenieur im Ruhestand. „Wenn sie aufkommt, macht sie manchmal die unglaublichsten Dinge.“

Ja, es geht wunderlich zu beim Boule-Spiel. Allein schon, dass „Ecki“ aus München kommt und Martin aus „Hamburch“ ist eine ungewöhnliche Konstellation. Das suchen sich Norddeutsche und Bayern nicht freiwillig aus, normalerweise. Wobei Ecki aber auch kein ganz echter Bayer ist, sondern in Görlitz aufwuchs. Und dass Eckis Frau Trudi eine schicke Wienerin ist und trotzdem mitspielen darf, gehört ebenfalls zu den Geheimnissen des Boule-Spiels.

„Im Grunde ist das ein barrierefreier Sport“, sagt Martin Silkeit und schmunzelt. Ja, jeder kann mitmachen. Auch ärmere Menschen. Einer, der immer dabei war, ist Frank gewesen; der war lange arbeitslos und spielte hier regelmäßig mit Uwe, dem Mathematikprofessor, mit Ecki, Trudi, Rudi und dem anderen Uwe, dem vom Theater. Als Frank im Spätsommer plötzlich gestorben ist, waren alle geschockt und haben ihm ein letztes Spiel gewidmet. Dass dabei einer seine Kugel in der Neiße versenkt hat, hat diesem ernsten Moment dann wiederum die Schwere genommen. Es war ein besonderer Nachmittag.

Und auch dieser Tag ist besonders. Die Reichenbacher vom „Nabouleon“-Verein sind ja geradezu Profis im Boule-Spielen. Manche von ihnen sind von Frühling bis Herbst jedes Wochenende unterwegs, quer durch die Republik. Aber darauf kommt es diesmal gar nicht an. Es sind die offenen Vereinsmeisterschaften, da kann jeder mitmachen. Und weil Görlitz diesen wunderbaren Platz im Uferpark hat, finden die Meisterschaften eben hier statt.

Morgens um zehn waren die Bahnen fertig markiert, der Tisch für den Turnierleiter war fertig, die Tafel mit der Punktetabelle aufgestellt. Nicht zuletzt das kleine Zeltdach, unter dem Kaffee, Kuchen und Bier Platz fanden. Dass es schon dunkel wurde, als die letzten Punkte in die Tabelle eingetragen waren, hat vielleicht an der Auszeit mittendrin gelegen. Als der Mathe-Uwe auf einmal einen Vogel wichtiger gefunden hatte als das Schweinchen. Aber am Ende war das auch egal, als alle um Martins Feuer saßen. Eines haben sich die Görlitzer Boule-Spieler vorgenommen. Sie wollen mal ein paar Leute vom Bürgerrat ranholen oder einige Stadträte. Denn so schön der Platz ist, fehlt doch ein bisschen was zum großen Glück. Eine Toilette zum Beispiel. Bei der Meisterschaft hatten sie eigens ein Dixi-Klo aufgestellt. Aber das können sie ja nicht jedes Mal machen, wenn sie sich hier treffen; immerhin drei-, viermal pro Woche. Und für die Frauen ist es halt blöd, weil sie nicht einfach mal „um die Ecke“ gehen können. Und vielleicht gibt’s noch eine Bank, um sich zwischendurch mal ausruhen zu können.

Neulich war ein Stadtrat aus der Nachbarschaft da. Der findet die Idee mit dem Klo und mit der Bank schon mal gut. Der Bürgerrat für die östliche Innenstadt hat aber erst einmal einen anderen Schwerpunkt gesetzt. Nächstes Jahr soll nach Auskunft von Stadtplaner Friedemann Dreßler hier eine Tischtennisplatte installiert werden. „Aber es bleibt genügend Platz für drei Norm-Boule-Bahnen“, betont er. Und wenn immer mehr Leute hier auf dem Kiesplatz Spiel und Sport betreiben, wird vielleicht bald auch eine Toilette folgen.