Merken

Das Geheimnis der Weinkulturbar

Auf keinen Fall wollte Silvio Nitzsche selbstständig sein – bis er Heimat suchte und sie nicht nur für sich selbst fand.

Teilen
Folgen
© Christian Juppe

Von Nadja Laske

Er hat sich nicht verhört. Tischreservierungen gibt’s erst wieder für 2020. Die aufkommende Schnappatmung des Anrufers verebbt an Silvio Nitzsches gewinnender Stimme auf Band: Sollte Interesse daran bestehen, in zwei Jahren zu Gast in der Weinkulturbar zu sein, dann nehme er gern ab August 2019 Bestellungen an, verkündet der Sommelier.

Nichts liegt Silvio Nitzsche ferner, als Kundschaft aufzuregen. Wer sein kleines Ecklokal an der Wittenberger Straße betritt, fällt in einen schwer zu erklärenden Entspannungsmodus. Das ist Nitzsches Absicht, sein Erfolgsrezept und Teil seiner selbst. Wer sucht, der findet, sagt der Volksmund. Wer unangestrengt sucht, findet leichter, zeigt die Erfahrung. Diese komfortable Lage hat sich Silvio Nitzsche über viele Jahre erarbeitet. Auch jetzt bekommt er sie nicht geschenkt, doch er genießt sie.

Als der 44-Jährige beschloss, Gastronom zu werden, hatte er das gute Kindheitsgefühl im Bauch, wie schön es ist, Gäste zu bewirten. Seine Mutter tat das, und ihr Sohn ging in dem Restaurant, in dem sie arbeitete, aus und ein. Der aufgewühlte Ausbildungsmarkt der Wendezeit bot ihm zu wenig Verlässlichkeit, deshalb bewarb er sich lieber dort, wo das meiste beim Alten blieb: im Westen. Auf der Insel Rügen war er aufgewachsen, nun zog Silvio Nitzsche nach Friesland und wurde Hotelfachmann. „Ich habe eine solide Ausbildung bekommen, spürte aber, dass in dem Beruf mehr geht“, erzählt er. In Wettbewerben suchte er neue Herausforderungen und fand bald eine noch größere, als Restaurantleiter in Bayreuth. Selbst aus seinem Wehrdienst machte er fachlich das Beste, arbeitete im Casino und fuhr im Verpflegungsauftrag zu einem Auslandseinsatz in Kanada.

Zurück im zivilen Leben begann Silvio Nitzsche, sich im gastronomischen Sternesegment dem Wein zu widmen. „Nach der Armee bin ich nach Stuttgart in die Speisemeisterei gegangen. Da hatte ich zum ersten Mal mit einer Weinkarte von rund 100 Positionen zu tun.“ Heute multipliziert er diese Zahl mit zehn. Etwa 1 000 Weine stehen in der Weinkulturbar auf der Karte, die eigentlich ein drei Zentimeter dickes Buch ist. Allein zwischen 60 und 90 offene Weine bietet der Sommelier an. Dazu je nach Jahreszeit 70 bis 120 Käsesorten.

Wer als Gast diese Chance ernst nimmt, hat in Silvio Nitzsche einen Genusslehrer, den er nie vergisst. Ihm selbst ist eine solche Bedeutung bewusst, wenn er an die Stationen und Lehren seines Berufslebens denkt. Mit seinem Fotoband „Somm“ hat er Anfang des Jahres den bedeutendsten Weinkellnern des Landes eine Ehre erwiesen. Und umgekehrt ehrte gerade das Genussmagazin Feinschmecker den Dresdner als einen der besten zehn Sommeliers Deutschlands.

Jüngster Drei-Sterne-Sommelier

Mundschenk werden sie auch genannt. Der altertümliche Name gefällt Silvio Nitzsche. Er steht, entsprechend der Weinkulturbar, für das Gegenteil von hip, auch wenn sie eine der angesagtesten ist. Was tut einer, dessen Gäste wie Fans zu schwärmen beginnen, wenn sie auf ihn zu sprechen kommen? Gäste, denen es wichtiger ist, einen Tisch reserviert zu haben, als zu wissen, mit wem genau sie den Abend verbringen werden? Denn das ist Praxis: Weinfreunde buchen, wann auch immer sie die raren Plätze bekommen, und laden dann Freunde, Familie, Kollegen oder Geschäftspartner ein.

Silvio Nitzsche lächelt still, er weiß darum, und es freut ihn. Dabei hat er nie einen Ansturm bezweckt. Nicht einmal selbstständig sein wollte er. „Dann müsste für mich der Kommerz im Vordergrund stehen, und das liegt mir nicht“, sagt er. Ihn reizt die Weite des Weins und all dessen, was sich darum dreht – Speisen, Mythen, Geschichte und Geschichten, Kult und Kultur. Eine ganze Wissenschaft. „Wein trinken, innehalten, reden, zuhören, das gehört zusammen.“ Für den lebensnotwendigen Umsatz sorgt indes der Weinhandel.

Ruhe sollten die Räume ausstrahlen, für die er sein „niemals selbstständig“ aufgeben würde. Nach zwei Jahren in Kalifornien und dem Erfolg, als 25-Jähriger jüngster Drei-Sterne-Sommelier Deutschlands zu sein, erschien ihm der Zenit erreicht. „Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals bessere Arbeitsbedingungen und einen besseren Chef zu finden“, erzählt er.

Inzwischen hatte er in Köln gearbeitet, seine Frau kennengelernt und war Vater geworden. „Ich wollte Zeit für meine Familie haben und versuchte zwei Jahre lang, bei besseren Arbeitszeiten im Weingroßhandel glücklich zu werden. Aber ich habe den Umgang mit den Gästen vermisst.“

Wo wollen wir leben? Diese Frage stellten sich Silvio Nitzsche und seine Frau. „Wir wollten endlich richtig zu Hause sein.“ Als Schüler war er einmal in Dresden gewesen. Nun las er viel über die Stadt. Auch Hamburg hätte dem Paar gefallen, doch es entschied sich für Sachsen. Und für diesen winzigen Eckladen. Der war ein Café, als Nitzsche ihn 2007 übernahm. „Ich kam herein und habe sofort gespürt, dass er Wärme und Wohlgefühl ausstrahlt.“

Heute beherbergt er das begehrte halbe Dutzend Tische, Käsetheke und deckenhohe Weinregale. Zu Silvio Nitzsche und seinem vierköpfigen Team kommen Weinfreaks, die ihren Auftritt suchen, und solche, die „weiß, trocken“ bestellen. Beide bewirtet derselbe Gastgeber. Einer, der nicht nur Wein, sondern auch vier verschiedene Zuckersorten zum Tee serviert und den Kaffee auf einem Silbertablett. Einer, der in seine innere Heimat einlädt.