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Das Geheimnis der toten Tauben

Warum eine TJG-Bühnenbildnerin im Kraftwerk Mitte zwei in die Falle gegangenen Vögeln das ewige Leben gibt.

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© René Meinig

Von Nadja Laske

Dresden. Die Tauben hatten keinen guten Tag. Völlig ungeeignet für Noahs Auftrag, flogen sie in die Falle. Das Ende ihrer Freiheit. Durch eine Öffnung im Glasdach der alten Schaltwarte im Kraftwerk Mitte sind sie ins Innere getrippelt. „Von dort haben sie den Weg zurück nicht gefunden“, sagt Grit Dora von Zeschau. Wann genau das Leben der Vögel so kläglich endete, kann die Bühnen- und Kostümbildnerin nicht sagen. Sie fand die verwesten Kadaver in den Gängen hinter den Schaltwänden. Dort haben sie ihr letztes Ruckedigu gerufen, doch aus der Einsamkeit des stillgelegten Gebäudes konnte sie niemand retten.

Wie ein Fossil in Bernstein ruht der Kadaver in seinem ungewöhnlichen Grab aus Kunstharz. Beide Blöcke sind jeweils 36 Zentimeter breit und hoch und zwölf Zentimeter tief.
Wie ein Fossil in Bernstein ruht der Kadaver in seinem ungewöhnlichen Grab aus Kunstharz. Beide Blöcke sind jeweils 36 Zentimeter breit und hoch und zwölf Zentimeter tief. © René Meinig

Monatelang hat Grit Dora von Zeschau in der schlafenden Schaltwarte gearbeitet. Seit vielen Jahren entwirft sie für Produktionen des Theaters Junge Generation Bühnenbilder und Kostüme. Nach ihrem Studium an der Hochschule für Bildende Künste Dresden hatte sie Engagements an großen Häusern in Stuttgart, Weimar, Dresden, Berlin, Wien und anderen. Am TJG schätzt sie die kontinuierliche Zusammenarbeit und übernimmt mit Beginn der neuen Spielzeit die Leitung der Abteilung Bühnenbild und Kostüm. Zur Eröffnung des neuen Theaters gestaltete sie einen bespielbaren Raum, Generator genannt. Allein dafür entwarf sie die Bühnenbilder für vier Premieren. Der Generator entsteht temporär in der Studiobühne des Jugendtheaters. Inspiriert von der historischen Schaltwarte schuf die Bühnenbildnerin eine begehbare Installation. Wer sie besucht, stolpert förmlich über die beiden Tauben.

Weil dieser Bereich des Kraftwerkes auch nach der Eröffnung des neuen Kulturareals für Normalsterbliche verschlossen bleibt, sollte im TJG das Abbild der lichtdurchfluteten Schaltzentrale entstehen. Ab Ende des 19. Jahrhunderts regelten von dort aus Techniker die Lichtversorgung der Stadt. Grit Dora kennt den Raum bei jeder Tages- und Nachtzeit. Sie weiß, wie er wirkt, wenn gleißende Sonne darüber steht und schneebedeckte Oberlichter ihn in Watte packen. Regen hörte sie aufs Glas prasseln und Vogelschritte trippeln. Auch Geflatter, wenn klügere Artgenossen lieber das Weite suchten. „Spätestens bei einer Restaurierung der alten Schaltwarte wären die toten Tauben sicher weggeschmissen worden“, sagt Grit Dora von Zeschau.

Manchmal saß sie in der Mitte des Raumes an dem riesigen Schreibtisch mit dem roten Telefonhörer und der schwarzen Wählscheibe. Dort entwarf und zeichnete sie, wertete Informationen und Fotos aus, berechnete Flächen, abstrahierte und applizierte. Dass die Tauben zum Raum dazugehören, war ihr sofort klar. Zum Glück kam die Künstlerin noch zur rechten Zeit, um zu verhindern, dass die Vögel im Müll landen. Sie sind die letzten Wesen, die die Stille durchbrachen, bis Theaterleute wieder Leben an diesen Ort brachten. „Ich habe hier auch mit einem Zeitzeugen gesprochen“, sagt Grit Dora. Der ehemalige Mitarbeiter des Kraftwerkes erklärte ihr die Funktion der Schaltwarte bis ins Kleinste. Zu seiner Zeit hätten keine Kadaver herumgelegen. Vielleicht hätte sich das Kind, das während der Arbeitszeit seiner Mutter oder seines Vaters hier für einen Schultest Physik gelernt und seinen Hefter zurückgelassen hat, über den tierischen Besuch gefreut – nicht ohne ihn in die Freiheit zu schicken.

Grit Dora von Zeschau gibt den verendeten Tieren nun das ewige Leben. Sie hat ihre verfallenen Körper gesichert und in Kunstharz gießen lassen. Jetzt ruhen sie in gelblich schimmernden Blöcken wie Fossilien in Bernstein. Wenn für Aufführungen in der Studiobühne der Generator aktiviert und das entsprechende Bühnenbild eingebaut wird, gehören diese Kunstharzelemente dazu und fügen sich wie hinterleuchtete Zierfliesen in den Fußboden ein – dort, wo sie einst gefunden wurden, um nun als Kunstwerk wiedergeboren zu sein.

Nächste Premiere am TJG: 1. Juni, 10 Uhr, „Sindbad der Seefahrer“, für Kinder ab acht Jahren

www.tjg-dresden.de