Merken

Das Ende der Bolzplätze

Deutschland fehlen die kreativen Fußballer. Wo sollen sie herkommen, wenn auf der Straße nicht mehr gekickt wird?

Teilen
Folgen
NEU!
© mauritius images/Walter G. Allgöwer

Von Timotheus Eimert

Die Schulklingel läutet. Es ist 14 Uhr, nichts wie ab nach Hause. Beim Verlassen des Klassenzimmers wird sich nur noch zugerufen: „Gehn mor bäbbeln?“ Den Mitschülern ist klar, dass dies eine rhetorische Frage ist. „Natürlich gehn mor bäbbeln, wasn sonst“, denken sich alle. Zu Hause angekommen wird schnell etwas gegessen. Und schon geht es ab auf die große Wiese hinterm Haus, den Wäsche- oder auf den Bolzplatz. Hausaufgaben müssen warten oder werden zum Leidwesen der Lehrer gar nicht gemacht. Aber daran denkt niemand, es wird gebäbbelt, bis es dunkel war. Bäbbeln, das ist das sächsische Wort für Fußballspielen auf einem Bolzplatz, Hof oder einer freien Fläche. Einfach drauflos spielen.

Den haben alle. Natürlich wird über fragwürdige Entscheidungen, ob der Ball im Aus war, gestritten. Und manchmal fallen auch böse Worte. Doch nach kurzer Zeit ist alles wieder geklärt. Beim Bäbbeln sind Emotionen dabei. Wenn man den Ball wirklich nicht mehr sieht oder Mutti zum Abendbrot ruft, dann muss man tatsächlich aufhören. Die Kumpels gehen nach Hause. Man selbst freute sich auf den nächsten Tag, wenn es wieder hieß, „mor gehn bäbbeln“. Wer erinnert sich noch daran?

Lukas Podolski ist auf einem Bolzplatz in Köln groß geworden. Der Weltmeister von 2014 fragte seine Kumpels nicht auf Sächsisch, sondern auf Kölsch: „Gonn m’r Fußball spelle?“ Er sagt: „Das hat mir viel gegeben: die Power, mit Freunden zusammen zu sein, die Integration mit den Ausländern. Eins gegen eins, Zweikämpfe, da war alles dabei.“

Straßenfußballer wie Podolski gibt es heute viel zu wenige. Das Fußballmuseum in Dortmund hat Anfang des Jahres einen Antrag gestellt, dass die Bolzplatz-Kultur des Ruhrgebietes Weltkulturerbe der Unesco werden soll. In der Begründung hieß es, dass ein Bolzplatz ein Raum für Kinder und Jugendliche ist, der nur ihnen gehört. Die Kinder lernen, Auseinandersetzungen zu üben, sich mit anderen zu messen und ihre Aggressionen herauszulassen. Dies sei für das spätere Leben von großer Bedeutung. Aber wo ist diese Kultur geblieben? Stirbt diese Art Fußballer aus?

„Leider sieht man diesen Typus immer seltener“, sagte Ralf Hauptmann einmal im Dynamo-Kreisel und begründete: „Das liegt daran, dass Kinder auf vielen Wiesen oder neben den Hauseingängen nicht mehr Fußball spielen dürfen.“ Und wenn sie es doch machen, würden sie schnell Ärger mit einem Hausmeister oder Anwohner bekommen. Der Ex-Profi und Leiter der Dynamo-Dresden-Fußballschule hat auch auf der Straße gebäbbelt. Bei Stahl Riesa begann er dann seine Karriere, die ihn zu Dynamo und zum 1. FC Köln führte.

Für Pal Dardai gibt es kaum noch klassische Straßenfußballer. Der Trainer vom Erstligisten Hertha BSC sagte in einem Sport-Bild-Interview: „Das hat unter anderem mit Handys und Playstations zu tun. Früher hast du Fußball gespielt, vielleicht ein bisschen Playstation, und nach dem Essen bist du wieder raus zum Fußball.“

Heute sieht das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen anders aus. Laut der Kinder-Medien-Internet-Studie aus dem Jahr 2016 sagten 60 Prozent der befragten Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren, dass sie in ihrer Freizeit mindestens einmal pro Woche am Computer, an einer Konsole oder im Internet spielen. Ebenso viele nutzen ein Handy oder ein Smartphone einmal wöchentlich. Die tägliche Nutzung ist mit 42 Prozent auch hoch. Da ist die Frage, ob am Nachmittag gebolzt wird, eben nicht mehr nur rhetorisch.

Dass in Deutschland solche Spielertypen fehlen, zeigte sich auch bei der Weltmeisterschaft in Russland. Niko Kovac, inzwischen Trainer des FC Bayern München, schrieb in seiner Kolumne in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „In Südamerika und im Mittelmeerraum gibt es noch die Straßenfußballer, die Spaß daran haben, einen Gegner zu veräppeln oder für die Galerie zu spielen.“ In Deutschland würde man so etwas aber allzu oft aberziehen. Seine Forderung: „Es sollte in der Nachwuchsarbeit wieder mehr darauf geachtet werden, dass man im Fußball nicht nur Handwerker und Facharbeiter braucht, sondern auch Künstler.“

Bei der Dynamo-Fußballschule verfolgt man solch einen Ansatz. „Der Schwerpunkt liegt ganz klar auf Ballarbeit, Technik und Spielformen“, sagt Hauptmann. Ausdauereinheiten? Fehlanzeige! „Wir wollen unsere Spielphilosophie vermitteln. Dazu gehören eine gute Ballbehandlung, Beidfüßigkeit und der Mut zum offensiven Zweikampf im eins gegen eins.“

Diese Dinge haben die Kinder früher auf der Straße gelernt. Wenn die Schulklingel läutete, dann ging es nach Hause, Essen fassen und ab auf die Hinterhöfe, Wiesen und Bolzplätze der Stadt, bäbbeln gehn.