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Das bunte Klassenzimmer

Geflüchtete Kinder und Jugendliche beginnen in Nünchritz ihre deutsche Schullaufbahn. Die SZ hat die Klasse besucht.

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© Sebastian Schultz

Von Antje Steglich

Nünchritz. Mohammad ist der Spaßvogel der Klasse. „Am Rhein“, ruft er mit einem breiten Grinsen dazwischen, als Lehrerin Grit Schellenberg die Klasse fragt, an welchem Fluss die Stadt Hamburg liegt. Das bringt dem Jugendlichen nicht nur eine milde Rüge ein, sondern er muss auch gleich nach vorn und an der großen Deutschlandkarte zeigen, wie sich die Elbe von Riesa nach Hamburg schlängelt. Dorthin geht nämlich die Klassenfahrt von Sofie, dem Mädchen aus dem Schulbuch. Der Hafen, das Musical „König der Löwen“, das Miniatur-Wunderland oder auch eine Fahrradtour sind als Beispiele für Ausflugstipps im Lehrbuch aufgeführt – und werfen bei Mohammad und seinen Mitschülern in der Vorbereitungsklasse der Oberschule Nünchritz viele Fragen auf.

Gelernt wird mit speziellen Arbeitsbüchern. Im Unterricht und auch untereinander sprechen die Kinder und Jugendlichen deutsch.
Gelernt wird mit speziellen Arbeitsbüchern. Im Unterricht und auch untereinander sprechen die Kinder und Jugendlichen deutsch. © Sebastian Schultz

Was ein Musical ist, wissen die wenigsten der zehn Schüler im Alter zwischen elf und 16 Jahren. Dass der Hafen ein Bahnhof für Schiffe ist, ist zwar schnell erklärt. Bei der Miniaturwelt muss Grit Schellenberg aber doch ein wenig weiter ausholen. „Irgendwie kommen wir aber immer weiter“, sagt Grit Schellenberg optimistisch. Und wenn sie dabei auch mal das Handy zu Hilfe nehmen muss, um ihren Schützlingen ein Foto zu zeigen.

„Die Klasse ist sehr bunt“, sagt die 57-Jährige. Die Unterschiede beim Alter, beim Schulwissen und bei der Nationalität stellen sie vor große Herausforderungen. Seit zwei Jahren arbeitet die für Geschichte, Russisch und Deutsch als Fremdsprache ausgebildete Lehrerin in Nünchritz. Zuvor hat sie 20 Jahre lang im Ausland Deutsch unterrichtet. „Dann habe ich gehört, dass Sachsen Lehrer sucht. Da habe ich mein Auto gepackt und bin losgefahren“, erzählt die gebürtige Dresdnerin. Jetzt vermittelt sie minderjährigen Migranten während der ersten Phase die Grundlagen der deutschen Sprache, und während der zweiten Phase zusätzlich Fachwissen in den Grundfächern wie Mathematik oder Geografie. Nach und nach werden die Kinder dann in einzelnen Fächern – meist Sport, Kunst oder auch Englisch – in den deutschen Klassen mit unterrichtet, bevor sie in Phase drei ganz in eine Regelklasse wechseln.

Ziel ist ein Schulabschluss, sagt Grit Schellenberg. „Da sind wir dann schon sehr stolz drauf. Das funktioniert aber meist nur, wenn sie noch nicht so alt sind. Wenn man erst mit 13 oder 14 beginnt, wird es eng“, weiß die Lehrerin. Für sie sei es aber auch schon ein großer Gewinn, wenn Schüler, die als Analphabeten zu ihr kommen, irgendwann flüssig lesen und schreiben können.

Sachsenweit lernen knapp 7 900 Schüler in solchen Vorbereitungsklassen, heißt es in der Statistik des Kultusministeriums. Knapp 550 Klassen – früher Daz-Klassen genannt – gibt es in diesem Schuljahr. Vor allem an Grundschulen, aber auch an Berufs- oder Oberschulen. Vor zwei Jahren wurde die Vorbereitungsklasse in Nünchritz eingerichtet. Aus der Gemeinde selbst kommt allerdings kein einziger Schüler. An der Oberschule landen vielmehr die, die in den vollen Klassen der benachbarten Städte keinen Platz mehr bekamen.

Die zehn Schüler, die ursprünglich aus Guinea, Syrien, dem Irak und Georgien kommen, leben momentan in Riesa oder Strehla. Für sie gilt Schulpflicht. Sechs bis sieben Stunden stehen jeden Tag auf dem Stundenplan. Musik, Sport und Englisch zählen zu ihren Lieblingsfächern, erzählen sie. Deutsche Grammatik dagegen nicht. Lebhaft erzählen sie von den Ausflügen nach Leipzig und Moritzburg, die sie mit Grit Schellenberg unternommen haben. Und dass sie sich eine Klassenfahrt nach Berlin zum Bundestag wünschen würden. Wie viele Monate sie noch in der Vorbereitungsklasse bleiben, ist allerdings ungewiss – und je nach Fähigkeiten auch ganz unterschiedlich. Die meisten von ihnen können schon ganz gut Deutsch sprechen und lesen. Nur Tiko sei noch in Phase eins.

Das Mädchen aus Georgien sitzt ganz am Rand der Klasse und kichert nicht mit den anderen über den Quatsch von Mohammad. Aufmerksam hört sie stattdessen Ali Alsarran zu, der ihr leise das Prinzip der deutschen Possessivpronomen erklärt. Ihr steht heute noch ein Test bevor. „Das Handy – mein Handy“, versucht der 34-Jährige, den Unterschied zum Artikel zu erläutern. Seit einem guten halben Jahr hilft er im Rahmen eines durch die Diakonie vermittelten Praktikums im Unterricht von Grit Schellenberg mit. Hat Zeit für einzelne Schüler, die bei dem großen Leistungsunterschied in der Klasse vielleicht untergehen würden. „Im Unterricht hilft es auch viel, dass er die Heimatsprache der Schüler und gleichzeitig gut Deutsch spricht“, so die Lehrerin. Der gebürtige Syrer, der vor drei Jahren als Flüchtling nach Deutschland kam, spricht arabisch, was auch die meisten Kurden verstünden. Sein Berufswunsch: Lehrer. Schließlich habe er in seinem Heimatland schon als Privatlehrer gearbeitet, erzählt Ali Alsarran in der Pause.

Die Schüler haben derweil ein paar Pausenbrote ausgepackt. Laufen im Zimmer umher, lachen und reden miteinander. Vor allem deutsch. Zwischendurch kommt Besuch aus anderen Klassen – ehemalige Schüler von Grit Schellenberg, die mittlerweile in die Regelklassen gewechselt sind. Selten, weil sie Hilfe brauchen, erzählt die 57-Jährige. Sondern oft nur zum Reden oder Zuhören. „Alle kommen immer wieder hierher. Das ist unser Migrationswohnzimmer“, sagt sie zu dem hellen Raum im Erdgeschoss. Der unterscheidet sich eigentlich kaum von den Nachbarzimmern – er ist höchstens etwas bunter, würde Grit Schellenberg wohl sagen.