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Darf ich bitte rein hier?

Ezé, 24, will in Dresden Germanistik studieren. Doch für einen Afrikaner ist es nicht leicht, legal nach Deutschland zu kommen.

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© Norbert Neumann

Von Anna Hoben

Dresden, Sommer 2013. Als der Anruf kommt, der sein Leben verändern wird, bereitet Ezé sich gerade auf das Konzert vor, das er am Abend in der Bunten Republik Neustadt geben soll. Zusammen mit einem Musikerkollegen macht er eine Tour durch Deutschland und Frankreich, zum ersten Mal in seinem Leben bereist er Europa. Ezé läuft in jenem Sommer mit einem Dauergrinsen herum. Er ist glücklich.

Im Moment wohnt Ezé bei Martina Ihlau in Weißig. Als sein Vater starb, gab sie ihm das Versprechen, immer für ihn da zu sein. Seitdem setzt sie sich mit aller Kraft für ihn ein.
Im Moment wohnt Ezé bei Martina Ihlau in Weißig. Als sein Vater starb, gab sie ihm das Versprechen, immer für ihn da zu sein. Seitdem setzt sie sich mit aller Kraft für ihn ein. © Norbert Neumann

Sein Bruder kommt gleich zur Sache. „Die Nachrichten von hier sind nicht gut“, sagt er am Telefon, „Papa ist gestorben“. Herzinfarkt. Ezé ist über 5 000 Kilometer von zu Hause entfernt. Er glaubt, sein Herz höre auf zu schlagen und der Himmel fiele ihm auf den Kopf. Am Abend spielt Ezé das Konzert, sein Vater, sagt er, hätte es so gewollt. Er verausgabt sich, wie er sich noch nie beim Musizieren verausgabt hat. Schweiß mischt sich mit Tränen.

Winter 2015. Ezé ist zurückgekommen nach Dresden. Hier will er seinen Master in Germanistik machen. Doch eigentlich wäre er gar nicht hier, weil er noch kein Studentenvisum hat. Sein Fall illustriert, wie schwierig es für einen jungen Afrikaner sein kann, auf legalem Weg nach Deutschland zu kommen. Dass er doch hier ist, hat auch mit Martina Ihlau zu tun, einer 47-jährigen Kindergärtnerin aus Weißig, die sich für ihn einsetzt und bei der Ezé nun wohnt. Er ist vorerst mit einem Künstlervisum eingereist, es gilt bis zum 12. Januar 2016. „Dann muss ich abreisen“, sagt Ezé, „sonst bin ich hier ein Flüchtling“.

Ezé heißt mit vollem Namen Ezekiel Wendtoin Nikiema. 1991 wird er in Ouagadougou geboren, der Hauptstadt von Burkina Faso, das als eines der ärmsten Länder der Welt gilt. Sowohl sein erster als auch sein zweiter Vorname bedeuten „Gott stärkt“, einmal auf Hebräisch, einmal auf Mooré, einer Sprache, die neben der Amtssprache Französisch in Burkina Faso verbreitet ist. Sein Vater ist evangelischer Pfarrer, Ezé wächst mit der christlichen Religion auf. Und mit Musik. Sie gehört zu seinem Leben wie Essen, Trinken, Beten. Mit seinem Bruder tritt er als Percussionist in der Kirche auf. In der elften Klasse beginnt Ezé, Deutsch zu lernen – und verliebt sich in die Sprache. Zwei Monate später komponiert er sein erstes Lied auf Deutsch.

Nach dem Abitur überrascht er seine Familie mit der Entscheidung, Germanistik zu studieren. Was er denn später damit machen wolle, fragen seine Eltern. Ob er nicht lieber etwas Ordentliches lernen wolle, Jura zum Beispiel? Doch was Ezé sich in den Kopf gesetzt hat, das zieht er durch. Warum Deutsch? Er sagt: „Weil ich die Kultur cool finde. Und weil ich immer das mag, was die Mehrheit nicht mag.“ Ein Vorteil: Als Jurastudent müsste er sich an der Universität von Ouagadougou mit tausend anderen Studenten in einen kleinen Hörsaal quetschen. In Germanistik sind sie nur etwa hundert im Jahrgang. Viele burkinische Eltern schenken ihren Söhnen zum Studienbeginn ein Moped. Ezé bekommt stattdessen ein Schlagzeug.

14 Fächer hat er im ersten Jahr, darunter: deutsche Zivilisation, Übersetzung Deutsch-Französisch-Englisch, Wortschatz, Konversation, Literatur. Ezé liest deutsche Märchen und das Grundgesetz der Bundesrepublik, Theaterstücke von Brecht und Goethe. Mit seinen Kommilitonen tritt er in einen regelrechten Wettstreit: Er büffelt Tag und Nacht, gehört zu den besten vier Studenten seines Jahrgangs. Gleichzeitig widmet er sich weiter der Musik. 2013 nimmt er an einem nationalen Musikwettbewerb teil. Der Preis: eine Europa-Tour. Ezé gewinnt, im Sommer geht es los.

November 2012. Ein halbes Jahr vor seiner Europa-Reise lernt Ezé in Ouagadougou Martina Ihlau kennen. Übers Internet hat die Dresdnerin Kontakte nach Westafrika aufgebaut. Auch mit Ezé hat sie schon hin- und hergeschrieben, eine willkommene Möglichkeit für ihn, Deutsch zu üben. Als Martina dann in Burkina Faso ist, geht es ihr wie Ezé mit der deutschen Sprache: Sie ist hin und weg von dem Land.

Außerdem ist sie beeindruckt von Ezés Sprachkenntnissen, seinem Wissen über die deutsche Politik und Kultur. Mit welcher Energie Ezé Dinge anpackt, fasziniert sie. „Er war von allen am interessiertesten und engagiertesten. Ich habe gemerkt, an dem Jungen ist etwas Besonderes.“

Sommer 2013, Dresden. Als die Horrornachricht vom Tod des Vaters aus der Heimat kommt, ist Martina Ihlau bei Ezé. An jenem Tag gibt sie ihm ein Versprechen: „Ich werde immer für dich da sein.“ Bislang hat Ezé keine Entscheidung ohne seinen Vater getroffen. Nun muss der junge Mann endgültig erwachsen werden. Er beginnt, Pläne zu schmieden. Wenn er seinen Bachelor in der Tasche hat, will er in Deutschland den Master in Germanistik machen. Er bewirbt sich an der TU Dresden, im Juli 2015 bekommt er die Zusage fürs Wintersemester, das im Oktober starten soll. Ezé freut sich wie ein Schneekönig.

In Dresden hat Martina Ihlau währenddessen schon versucht, ihm über eine Einladung bei der Ausländerbehörde ein Visum zu verschaffen. Sie will ihn während des Studiums bei sich wohnen lassen und auch finanziell unterstützen. Das Amt lehnt ab, Begründung: Ihr Einkommen reiche nicht für den Unterhalt. Auch eine gemeinschaftliche Bürgschaft mehrerer Freunde wird nicht anerkannt. Bei der Deutschen Bank legt Martina Ihlau ein Sperrkonto mit 8 000 Euro an. Dies, erfährt sie, ist der übliche Weg für Studenten aus Nicht-EU-Ländern. Ezé bucht einen Flug nach Deutschland im September.

Mit dem Kontonachweis und allen weiteren Unterlagen geht Ezé in die Deutsche Botschaft in Ouagadougou. Er legt ein Empfehlungsschreiben des Goethe-Instituts bei, bei dem er ehrenamtlich arbeitet. In der nächsten Zeit nimmt er an einem Musikwettbewerb teil, den das Bundesministerium für Internationale Zusammenarbeit ausgeschrieben hat: „Dein Song für eine Welt“. Er spielt alle Instrumente selbst ein, singt auf Deutsch und gibt sich den Künstlernamen „Die Rampensau“. Unter 159 Einreichungen gehört Ezés Lied zu den beliebtesten. Er gewinnt den Afrika-Sonderpreis. Im November soll er für Workshops und eine CD-Einspielung nach Berlin kommen. Ezé freut sich, hat aber kein Visum. Eine Welt? Die Idee bleibt vorerst eine Utopie.

Oktober 2015. Das Semester an der TU Dresden hat begonnen – ohne Ezé. Unterdessen hat es in Burkina Faso einen Militärputsch gegeben. Zwei Wochen bleibt die Botschaft geschlossen. Eine Nachfrage des Veranstalters des Eine-Welt-Song-Contests ergibt, es könne nicht garantiert werden, dass Ezé bis November ein Visum erhält. Er beschließt, vorerst mit seinem noch bis Januar gültigen Künstlervisum einzureisen, und hofft, wenigstens an einigen Uni-Kursen teilnehmen zu können. Doch ohne Immatrikulation funktioniert das nicht.

Also trinkt Ezé Tee, lächelt und wartet. Nach dem Tee schenkt Martina Ihlau in ihrem Wohnzimmer in Weißig Bier ein, und plötzlich fängt Ezé an zu singen, ein Lied von der Popgruppe Die Prinzen: „Das alles ist Deutschland, das alles sind wir.“

Er hat das verlorene Semester anders genutzt: hat Musik gemacht mit der Dresdner Banda Internationale, ist nach Berlin und Paris gefahren, hat sich in die deutsche Kultur vertieft. Bevor er aus dem Haus geht, hat er jedesmal Herzklopfen, auch wenn er vorher die Fahrpläne studiert hat. Wird alles klappen? In Ouagadougou fährt kein Bus pünktlich, aus ein paar Minuten können locker zwei Stunden werden. Wer nach Burkina Faso reist, erzählt Martina Ihlau, lernt das Warten. Bei Ezé ist es umgekehrt gewesen. Er hat das Warten in Deutschland gelernt, dem Land, in dem sonst alles minutiös getaktet ist.

Mehrfach hat er bei der Dresdner Ausländerbehörde vorgesprochen, um zu erreichen, dass sein Visum fürs Studium umgeschrieben wird. Doch die Behörde blockt. Er müsse das Papier bei der Botschaft seines Landes abholen, heißt es. Aus dem Auswärtigen Amt sind andere Töne zu hören. Die örtlichen Ausländerbehörden seien durchaus berechtigt, Änderungen des Aufenthaltstitels vorzunehmen. Die Entscheidung, ob ein sogenannter Zweckwechsel ohne Aus- und erneute Einreise erfolgen kann, liege in deren Ermessen.

Im Januar fliegt Ezé also nach Ouagadougou zurück. Ein teurer Zusatzschritt auf dem Weg zum Studium in Dresden. Martina und er hoffen, dass alles gutgeht und er das Visum bekommt. Burkina Faso galt bisher als politisch höchst instabil. Vor Kurzem hat es die ersten demokratischen Wahlen seit 55 Jahren gegeben.

Derweil entwickelt Ezé seine nächste große Idee. In Burkina Faso will er eine Schule für benachteiligte Kinder bauen. Er hat ein Buch über seine Musik geschrieben, den Erlös will er in das Projekt stecken. „Manche sagen, du spinnst, du bist viel zu jung.“ Aber wann soll er anfangen, wenn nicht jetzt? Ezé zitiert den schwarzen Intellektuellen Frantz Fanon: „Jede Generation muss ihren Auftrag erkennen.“

Kürzlich kam Post für Ezé. Das Dresdner Finanzamt schickte ihm eine Steuer-ID. Auf manche Behörden ist eben Verlass.