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Bummler durch die Klettergeschichte

Hobbyhistoriker Joachim Schindler misstraut allen Schwarz-Weiß-Ansichten. Dafür kennt er zu viele Gegenbeispiele.

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© Archiv Schindler

Von Jochen Mayer

Alles ist vertraut. Joachim Schindler wandert durch das Bielatal und schaut auf seine Felsen. Die berührte er schon alle. Der 71-Jährige hatte exakt an seinem 40. Geburtstag sämtliche 1 100 Gipfel der Sächsischen Schweiz bestiegen. Das ist für ihn nicht der Rede wert. Er kennt Familien, da stehen sie in dritter Generation – wie die Zimmermanns aus Dresden – in allen Gipfelbüchern der Sächsischen Schweiz. Gleiches gelang auch ganzen Familien wie den Neumanns aus Stadt Wehlen oder zwölf Bergsteiger-Ehepaaren.

Immer wieder entdeckt Joachim Schindler neue historische Details im Elbsandstein wie hier im Bielatal.
Immer wieder entdeckt Joachim Schindler neue historische Details im Elbsandstein wie hier im Bielatal. © SZ/Jochen Mayer
1937: Heinz Richter steht an der Spitze einer Riesenbaustelle am Falkenstein.
1937: Heinz Richter steht an der Spitze einer Riesenbaustelle am Falkenstein. © Archiv Schindler

Schindler fühlt sich als ganz anderer Gipfelsammler. Er blickt auf markante Felskanten und spricht wie selbstverständlich über Erstbegeher und deren Leben, Seilschaften und Schwierigkeiten, verblüfft mit immer neuen Jahreszahlen und Episoden. „Geschichte in Geschichten ist mein Thema“, sagt der Fernmeldeingenieur. „Menschen mit ihren Bergsteigergeschichten lassen mich einfach nicht los. Mich faszinieren die Ursprünge und die Vielfalt schon in frühen Jahren, das Soziale, das Beständige, die ständige Veränderung.“

Der Hobbyhistoriker hat seine Lebensaufgabe gefunden, ist längst ein anerkannter Chronist des sächsischen Kletterns. Er bringt seine Entdeckungen unter die Leute in Büchern, Broschüren, Vorträgen oder wie beiläufig beim Wandern. Sein Motto und die immer neue Motivation: „Tolle Menschen dürfen mit ihren Taten und Schicksalen nicht vergessen werden.“

Ungewöhnliche Post aus Dresden

Gerade beschäftigt ihn ein neues Gedenkbuch über Fritz Wiessner, einen der Urväter des sächsischen Kletterns. Der Dresdner war 1929 in die USA ausgewandert und hatte die sächsische Kletterphilosophie in die Welt hinausgetragen. Von da kam sie Jahrzehnte später als neuer Trend nach Europa zurück. Historiker Schindler stieß bei seinen Recherchen auf zwei bedeutsame Erstbegehungen in den Alpen, die Wiessner in den 1920er-Jahren mit einem Roland Rossi gemacht hatte. Wer aber war dieser Kletterpartner? Archive gaben ihm keine Antwort. So bekamen fast 40 Familien Rossi in Innsbruck und Umgebung ungewöhnliche Post aus Dresden.

„Sechs antworteten“, erzählt Schindler lächelnd vom kleinen Erfolgserlebnis seiner aufwendigen Suche. „Eine schrieb, dass sie eine Verwandte sei, und schickte Fotos. Dieser einst adlige Rossi wirkte als Assistent von Luis Trenker und kletterte sogar als Double des Bergfilmers in schweren Bergfilm-Passagen. Und Rossi drehte selbst Bergfilme. 1943 fiel er am Kuban-Brückenkopf.“ Schindler bohrte weiter, fragte im Wehrmachtsarchiv an, welchen Dienstrang Rossi hatte. „Ich muss ja anders mit ihm umgehen, wenn er bei der SS gewesen wäre, als wenn er als einfacher Gebirgsjäger in den Krieg ziehen musste“, begründet er sein Mühen. „Es ist spannend, Lebenswegen nachzugehen, die schon fast verblasst sind. Manchmal fühle ich mich wie ein Kriminalist.“

Wenn Schindler Namen nennt, sind die nicht einfach dahingesagt. Er sieht dann Gesichter, „weil ich nicht nur die Personen suche, sondern auch ihre Bilder“, lautet eine seiner Maximen. Er will den Leuten ein Gesicht geben, selbst wenn sie nicht mehr leben. Der Eintrag im Gipfelbuch ist schon mal ein Fund, aber wenn er dazu noch die Lebenswege kennt, Beziehungen untereinander, „dann ist das manchmal wie eine Offenbarung“, gerät Schindler ins Schwärmen. „Das sind die kleinen Freuden des Hobbyforschers.“ Meist gräbt er aber in Archiven oder sichtet die Schriften, Fotos, Aufzeichnungen aus Nachlässen, die sich bei ihm im Keller stapeln.

Dabei weiß er, dass die romantisch-geschichtsträchtige Sächsische Schweiz nur ein Mikrokosmos ist im Weltgeschehen. Sein Blick schweift über das Tal, das in Kriegszeiten Ort geheimnisvoller Aktionen war. Da wurde geschmuggelt, und illegale Literatur wechselte die Seiten. Da harrten Deserteure aus und sehnten das Kriegsende herbei.

Ungereimtheiten über Schießerei

Schindler arbeitete die Hitlerzeit in einer 376-seitigen, bemerkenswerten, weil faktenreichen Chronik voller Dokumente auf. Mit Urteilen hält er sich jedoch zurück. Aber er sucht geduldig nach Informationen wie über die Schießerei am 4. Juli 1935 an der Schneise 31 im Osterzgebirge. „Wer übte da alles Verrat?“, fragt er sich und stößt auf Ungereimtheiten. „Es ist furchtbar, was da alles in den Akten steht, wie drei Menschen zu Tode kamen und andere inhaftiert wurden, ganze Familien betroffen waren, Ärzte ihre Zulassung verloren.“

Mit einer SZ-Zeitungsseite von 1968 setzt er sich kritisch auseinander, fahndete nach dem Verfasser des wortreichen Textes ohne Autorennamen. Warum war die Geschichte wohl gerade damals erschienen? „Lag es vielleicht an einem abgelehnten Antrag auf Opferrente für Verfolgte des Naziregimes?“, fragt sich Schindler und sucht weiter nach Zeitzeugen und Hinterbliebenen, die Auskunft geben könnten. Er ist der Wirklichkeit, das heißt für ihn „der Wahrheit auf der Spur“.

Sogar die sowjetische Zeitung Iswestija beschäftigte sich 1935 mit dem Vorfall. Es gab auch deutschlandweit über 30 NSDAP-linientreue Zeitungsberichte über „kommunistische Schmuggler“. Der Historiker misstraut jedoch jedem Schwarz-Weiß, weil er bei seiner Spurensuche so unzählig viele Grautöne kennenlernte: „Werte wie Gemeinschaftsgefühl, Hilfsbereitschaft, Hilfe um jeden Preis“, listet er auf und fügt noch hinzu, „Kameradschaft über alle politischen Ansichten hinaus gab es bei den Kletterern auch in dunklen Zeiten.“

Kein Wischiwaschi machen

In der Bergsteigerszene fand Schindler Belege dafür, dass es zu Hitlers Zeiten trotz aller politischer Gegensätze und Widersprüche eine verbindende Klammer gab. „Das waren die Erlebnisse in Kletterclubs und mit Seilschaften am Fels“, vermutet der Spurensucher und erzählt Beispiele von Kommunisten, die über Nazis sagten, „dass sie sie als anständige Kletterer erlebt hatten. Es gab Fälle, da bürgten Nazis in Kletterclubs für Kommunisten“. Schindler will „kein Wischiwaschi machen, will nicht bagatellisieren. Es war keine heile Welt. Doch wer in die Natur geht, will sich von den Problemen des Tages frei machen, will sich selbst finden.“

Der Historiker entdeckte Belege für Zivilcourage im Faschismus: „Es gab die stillen Helden, die zum Beispiel die junge Frau aus dem Judenhaus zur Kletterpartnerin machten. Das war schon eine Art von zivilem Ungehorsam, Widerstand gegen das Nazisystem.“ So erlebte Ilse Frischmann auch, wie sie als gleichberechtigter Mensch behandelt wurde. Schindler hörte von der Jüdin, dass sie im KZ davon geträumt hatte, ohne Stern wie die anderen draußen unter den Felsen zu übernachten. „Das Wissen um die Samariterdienste und die gemeinsamen Nächte in der Boofe haben ihr geholfen, Auschwitz zu überleben.“

Es sind viele Aspekte, die ihn beschäftigen: wie auch bei unseren Vorfahren die Natur auf das Gemüt wirkte, wie Frauen die Kletterszene eroberten, wie sich Kletterclubs als Gemeinschaften bildeten und entwickeln. Er fühlt sich wie ein Bummler durch die Klettergeschichte und spürt dabei keine Abhängigkeiten. Der Rentner hat sein Einkommen, Freunde und damit Ratgeber wie Kritiker. Er kennt keinen Termindruck für seine Texte. „Ich muss mich vor niemandem rechtfertigen, bin nur der Wirklichkeit verpflichtet“, beschreibt Schindler seine ganz besondere Art von Freiheit und ist doch voller Unrast unterwegs, um Bergsteigergeschichten vor dem Vergessen zu bewahren.

„Das Beste an meinem Hobby sind Freunde, die kritisieren, die eine Meinung haben, die mich weiterbringen“, sagt Schindler. Für ihn ist der schönste Dank, „wenn sich Bergsteiger mit langen Briefen melden, unbekannte Fotos senden oder wenn Enkel von mir mehr über ihre Großeltern wissen möchten. Dann weiß ich, die Arbeit hat sich gelohnt“.