Merken

Brasilianerin mit Familienanschluss

Austauschschülerin Maria Rodriguez fühlt sich wohl in Niesky. Und das hat nicht nur mit ihren Gasteltern zu tun.

Teilen
Folgen
© André Schulze

Von Constanze Knappe

Es ist ein Ritual. Wenn Maria morgens aufs Fahrrad steigt, dann schickt Beate Rössel sie mit einem freundlichen Lächeln in den Tag. Die Nieskyerin ist Gastmutter für Maria Augusta Bordini Rodriguez, wie die 18-Jährige mit vollständigem Namen heißt. Aber so nennt sie hier keiner. Maria ist Maria. Seit dem 11. Februar lebt sie in Niesky, drei Tage zuvor war sie in Deutschland angekommen. In den ersten Tagen seien sie gemeinsam mit dem Fahrrad zum Friedrich-Schleiermacher-Gymnasium in Niesky gefahren. Da hatte Beate Rössel noch so ihre Bedenken. Doch mittlerweile kommt Maria sehr gut alleine zurecht. Sie fährt mit dem Fahrrad zur Schule und wohin sie will. Undenkbar wäre das bei dem Verkehr in Rio de Janeiro. Dort nämlich ist Maria eigentlich zu Hause. Wer bei dem Gegensatz der Millionen-Metropole zu Niesky an Kulturschock denkt, mag nicht ganz falsch liegen. Maria aber sieht es nicht so. Dass sie hier auf die Straße gehen kann, ohne vorher ihren Schmuck ablegen und ihr Handy dicht am Körper verstecken zu müssen, das hat sie in dem Vierteljahr in Niesky schätzen gelernt. Auch müsse sie hier allein auf der Straße keine Angst haben, sagt sie.

Maria spricht ihre Muttersprache Portugiesisch und hat zwei Jahre Französisch gehabt, davon wisse sie aber nicht mehr allzu viel. Zehn Jahre lernte sie außerdem Deutsch in der Schule. Dass sie jetzt in Deutschland ist, sei deshalb nur logisch. Das brasilianische Abitur in der Tasche würde sie gern Architektur studieren und das am allerliebsten in Deutschland. Wobei sich Gastmutter Beate Rössel nicht so ganz sicher ist, ob Maria wirklich Architektur meint – mit dem Zeichnen und Berechnen kalter technischer Fakten. Sie sei viel eher der künstlerische Typ und male sehr gern.

In Niesky geht sie in eine 11. Klasse des Gymnasiums. In mancher Stunde langweile sie sich ein bisschen, weil sie den Stoff schon kennt, sagt Maria. Vielleicht versteht sie aber auch gar nicht alles so ganz genau. „Was die Freizeit angeht, da bin ich ganz locker, aber in Sachen Schule bin ich streng“, wirft Beate Rössel ein und Maria nickt. Damit sie die Grammatik und deutsche Sprache weiter verbessert, wurde zusammen mit Schulleiter Dr. Volkmar Würfel ein Kompromiss gefunden. Maria nimmt auch am Deutschunterricht einer 6. und 7. Klasse teil. Anfangs haben die jüngeren Schüler sie über das Leben in Brasilien regelrecht gelöchert. Mit einigen Mädels der 11. Klasse ist sie inzwischen öfter zusammen. Mit ihrer Gastmutter haben sie Pizza gebacken und waren beim Maifest in Markersdorf.

Beate Rössel hätte schon zu Zeiten als ihre eigenen Kinder (heute 30 und 27 Jahre) noch zu Hause lebten gern eine Gastschülerin aufgenommen, Ihr Mann Reinhard war da von der Idee nicht allzu begeistert, damit schien das Thema erledigt. Als sich im vergangenen August in der Tanzschule in Görlitz, wo Beate Rössel als Sekretärin arbeitet, ein Mädchen nach Amerika verabschiedete, kam die Sprache darauf zurück. Gleich im September hätten Rössels ein Gastkind haben können. Doch so schnell, vermutete Beate Rössel, hätte sie ihren Mann nicht überzeugen können. Wie sich herausstellte, war es dann aber viel einfacher als gedacht. Auch ihre Kinder waren gleich begeistert. Vom Verein Experiment in Bonn, der Austauschprogramme für Jugendliche in 70 Ländern der Welt organisiert, bekamen sie die Profile von fünf jungen Leuten. Sie entschieden sich für Maria. „Wir haben ein brasilianisches Temperament erwartet und bekamen ein ruhiges Mädel“, erzählt Beate Rössel. Sie nahm Maria mit in die Tanzschule. Doch weder für Jazz Dance noch für den Gospelchor in Niesky, in dem die 50-Jährige singt, konnte sich die Austauschschülerin erwärmen. Maria genießt es stattdessen, bei ihrer Gastfamilie zu Hause zu sein. Vielleicht auch, weil sie hier ein eigenes Zimmer hat, mit fünf Geschwistern zu Hause in Brasilien immer jede Menge Trubel herrscht. Ihr Vater, der ihr jeden Morgen einen Gruß schickt, ist Verwaltungsangestellter, die Mutter Hausfrau. Offenbar hat die Familie eine Haushaltshilfe. So war Maria überrascht, dass ihre Gastmutter selber putzt, kocht und wäscht. Familienanschluss bei den Rössels bedeutet auch, dass Maria ihr Zimmer selbst aufräumt und im Haushalt den einen oder anderen Handgriff mit erledigt. Ein Lieblingsgericht in der deutschen Küche hat Maria noch nicht für sich entdeckt. Dass sie kein Gemüse und keinen Käse mag, ist für Beate Rössel eine Herausforderung. Dafür kann man Maria mit dem Schokoaufstrich einer bekannten Marke glücklich machen. Den gibt es zwar auch in Brasilien, kostet dort aber um ein Vielfaches mehr.

Anfangs war sie sehr schüchtern. Inzwischen ist das Eis gebrochen. Mit Rössels war sie im Skiurlaub in Österreich und hat das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig gesehen. Am 20. Juli geht ihr Flieger. Bis dahin möchten ihr Beate und Reinhard Rössel noch einiges zeigen. Berlin zum Beispiel. Da Maria einen jüdischen Freund hat, steht Auschwitz ebenfalls noch auf dem Plan. Sie wird ihre Gasteltern vermissen, da ist sich Maria jetzt schon sicher. Und Rössels wissen, dass es für sie nach Brasilien geht, nur das Datum steht noch nicht fest. Die beiden reisen schon immer viel und finden es spannend, abseits der üblichen Touristenpfade Land und Leute kennenzulernen. Durch Maria haben sie einen ganz neuen Blick auf Brasilien und seine Geschichte.