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„Bist du blind oder was?“

Mit Fußball will ein engagiertes Projekt Nieskyer Jugendlichen die Angst vor dem Anderssein nehmen.

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© André Schulze

Von Thomas Staudt

Joseph hat sein neonfarbenes Leibchen ausgezogen und wischt sich nun einen Tropfen von der Stirn. Dann setzt er sich, gerade wieder zu Atem gekommen, an den Tisch. Es sei echt schwer, so zu leben, sagt er. „Ich glaube, mir würde die Schönheit der Natur fehlen.“ Noch vor wenigen Augenblicken fightete er auf dem Spielfeld um jeden Ball. Was ihm das Fußballspiel erschwerte, war eine Art 3-D-Brille, die sein Sehen jedoch weder erweiterte noch verbesserte, sondern, umgekehrt, einschränkte. Leonie stand während der Partie im Tor oder vielmehr: Sie saß im Tor, und zwar in einem Rollstuhl. Jill simulierte eine eingeschränkte Koordinationsfähigkeit, indem sie hinter ihrem Rücken die eine mit der anderen Hand festhielt. Fünf Minuten wurde gespielt, dann wurden die Behinderungen „getauscht“. Trotz der Einschränkungen machten die Kids keine Kompromisse, gingen immer auf den Ball und wurden dabei auch mal laut: „He, bist du blind oder was?“ Nein, blind war Joseph während des Spiels nicht. Aber er erlebte am eigenen Leib, wie es ist, wenn er nicht wie sonst den vollen Durchblick hat.

Die ungewöhnliche Versuchsanordnung solle die Siebtklässler aus der Oberschule Niesky, insgesamt 26 Schüler in vier Workshops, mit dem Gefühl einer körperlichen Behinderung vertraut machen, erklärt Dana Lehmann. „Wir wollen Verständnis wecken und den Schülern die Scheu vor dem Anderssein nehmen.“ Die Leiterin der Lebenshilfe-Kita hat sich gemeinsam mit Lothar Gothan und Susanne Pippel auf die Fahnen geschrieben, die soziale Bildung von Jugendlichen zu fördern. Was die drei zusammenschweißt, ist der Themenkomplex Behinderung-Krankheit-Anderssein. Gothan leitet die Nieskyer Selbsthilfegruppe Diabetes, Pippel ist Leiterin des Zentrums für Ambulante Dienste im Diakoniewerk Martinshof Rothenburg.

Gemeinsam haben sie das Projekt „Behindern verhindern – Zeit zur Aufklärung“ aus der Taufe gehoben. Sie knüpfen Kontakte zum Landesamt für Schule und Bildung (Lasub), wenden sich an das Sozialministerium oder ans Diabeteszentrum Dresden und suchen sich Partner. Die Sparkasse, den FV Eintracht Niesky, die Oberschule. Einen finden sie in der Hochschule Görlitz-Zittau. Studenten unterstützen das Projekt nicht nur, sie machen es sogar zum Thema einer Arbeit und präsentieren die Ergebnisse 2017 vor einer Prüfungskommission. Alle vier sind bei der Neuauflage des Projekts in diesem Jahr wieder dabei.

Einer von ihnen ist Jan. Der 23-Jährige studiert Heilpädagogik und will später Menschen mit Einschränkungen rechtlich zur Seite stehen. Jan leidet selbst unter einer Mehrfachbehinderung. Was ihn motiviert habe, bei dem Projekt mitzumachen, sei die Möglichkeit, andere Arten von Behinderung kennenzulernen, sagt er. „Ich denke, es ist unglaublich wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen.“

Das Fußballspiel in der kleinen Soccer-Arena ist nicht die einzige Station, an der die Schüler erleben können, was es heißt, anders zu sein. Zuvor besuchen sie die Werkstätten für behinderte Menschen des Martinshofs Rothenburg in der Nieskyer Bahnhofstraße. Die Eindrücke fallen durchaus unterschiedlich aus. Leonie beschleicht ein Gefühl der Unsicherheit. Dustin hat keine großen Berührungsängste. Auch seine Schwester ist von Behinderung betroffen. Für ihn ist das Thema nicht neu. Jill findet schön, dass auch von Behinderung Betroffene am Arbeitsleben teilhaben. Ihre wichtigsten Empfindungen schreiben die Schüler auf. Am nächsten Tag werden alle an einem „Einhandfrühstück“ teilnehmen, also gemeinsam frühstücken, aber dabei nicht beide, sondern nur eine Hand benutzen. Anschließend werden sie nach Görlitz fahren. Nicht die Studenten, sondern die Schüler werden vor der Prüfungskommission an der Hochschule über ihre Erfahrungen sprechen.

Die Initiatoren wissen, dass das, was die Schüler in den Projekttagen erleben, eine Momentaufnahme ist. Aber was bleibt davon? Tatsächlich machen die Siebtklässler offenbar Erfahrungen, die über den bloßen Augenblick hinauswirken. Das spiegeln Eltern, die davon berichten, dass ihre Kinder immer wieder und lebhaft von den Projekttagen berichten, wider. Für das Erinnern ist auch die Präsentation an der Hochschule wichtig. „Aber dadurch können wir auch einschätzen, was wir das nächste Mal besser machen können“, so Dana Lehmann.

Denn weitergehen soll das Projekt in jedem Fall. Für nächstes Jahr sind bereits neue Partner gewonnen. Der Jugendring Oberlausitz zum Beispiel, der in diesem Jahr bereits die Soccer-Arena zur Verfügung stellte. Dann sind auch wieder Studenten dabei. 2019 werden es nicht wieder dieselben sein, fünf neue kommen hinzu.

Langfristiges Ziel ist es, das Thema im Schulplan zu verankern. „Das wollten wir von Anfang an. Leider hat das nicht geklappt“, sagt Dana Lehmann. Sie wird nach dem Projektabschluss wieder beim Landesamt für Schule anrufen und beim Ministerium. Irgendwann muss es ja klappen.