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Betrunken nur noch im Spiel

Dreißig Jahre lang war der Alkohol für Wolfgang Krauß der beste Freund. Die Touristen, die mit ihm als Dresdner Nachtwächter unterwegs sind, ahnen davon nichts.

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© kairospress

Von Karin Großmann (Text) und Thomas Kretschel (Foto)

Mit Perücke und Dreispitz geht Wolfgang Krauß durch die Nacht. Seine Schritte hallen im Gewölbe des Stallhofs. Er geht vorbei am Hotel, wo ein Mann mit einem Bier an der Bar sitzt. In den Gaststätten ringsum bleiben wenige Tische frei. Gedämpftes Licht, Gelächter, Rotweingläser und Weißweingläser, aber Krauß gehört nicht mehr dazu. Als wäre da ein Schild wie für Hunde: Ich muss draußen bleiben. Ausrufezeichen. Wer nicht trinkt, gilt als Spielverderber. Er macht ein schlechtes Gewissen. Er stört.

Krauß sagt, dass er damit fertig ist. Dabei war doch gerade die Gemeinschaft ein Grund dafür, dass er trank. Man saß nicht allein. Man konnte unbeschwert anstoßen. Man war als Mann anerkannt zwischen anderen Männern und immer gut drauf. Anlässe gab es so viele wie Flaschen im Konsumregal. Das Kulturgut Alkohol war in der DDR billig, sagt Krauß, und das Schmiermittel für die Familie. Zwischen Kindstaufe und Beerdigung musste jeder Geburtstag begossen werden, das unverhoffte Wiedersehen mit einem Kumpel, die Aussicht auf einen neuen Job, der Anfang der ersten Liebe oder das Ende der ersten Liebe. Und wenn es mal keinen Anlass gab, tat es der Schnaps auch pur.

Wolfgang Krauß schart an diesem Abend eine Ersatzgemeinschaft um sich. Fünfzig, sechzig Leute haben die große Stadtrundfahrt für Dresden gebucht. Sie endet bei einem Spaziergang mit dem Nachtwächter. „Hört ihr Leut’ und lasst euch sagen ...“ Neun geschlagen hat die Schlossuhr am Hausmannsturm. Ein Fahrrad scheppert über das Pflaster. „Unsere Gäule werden auch immer dürrer“, sagt der Nachtwächter Krauß. Er wechselt die Stimme. Mal klingt sie im breitesten Sächsisch und mal im harschen Kasernenhofton. Mitunter zeigt sie Schlagseite. „Früher waren die Nachtwächter oft ausgediente Unteroffiziere, die dem Trunke leicht bis mittelschwer ergeben waren. Sie standen im Ansehen auf der untersten Stufe der Gesellschaft.“ Als ob er nicht wüsste, was das bedeutet.

Das fragwürdige Ansehen stört die Touristen nicht. Touristen folgen lieber einem Kostüm als einem Straßenanzug. In jeder Stadt gibt es solche Leute, die sich verkleidet zum Affen machen und launiges Zeug erzählen. In Lübeck zum Beispiel ist der Hausarzt der Familie Buddenbrook mit Zylinder und Frack unterwegs. Durch Görlitz klappert ein Mönch auf Holzschuhen. Eine Gräfin von Brühl bietet ihre Dienste in Pillnitz an. Sie trägt bei größter Sommerhitze den Reifrock durch die Rabatten. Dann tropft der Schweiß ins üppige Dekolleté.

Krauß läuft mit strammen nackten Waden herum, mit Kniebundhose, weißer Bluse und Samtjackett. Saubere Handarbeit, die Knöpfe mit Stoff bezogen. In Dresden konkurrieren die Nachtwächter miteinander. Nachtwächterinnen gibt es auch, so weit hat es die Genderdebatte gebracht. Eine Frau mit Schlapphut auf dem Kopf und Hellebarde über der Schulter eilt im schwarzen Umhang vorbei und wünscht huldvoll „Gott zum Gruße“. Die späten Spaziergänger wünschen zurück.

Für Wolfgang Krauß ist es der letzte Beruf, nachdem er so viele andere Berufe hatte. Was er nach 1989 trieb, nennt er „studieren der Marktwirtschaft“. Er erzählt, wie er Versicherungen verkaufte, Häuser, Unternehmensberatung, Bücher für Bertelsmann. Der Wechsel ist das Konstante in seinem Leben. Er ist jetzt einundsiebzig. Neun war er, als seine Trinkerkarriere begann. Der Anfang ist immer der gleiche. Ohne Schnaps keine Feier, und irgendein netter Opa lässt den Kleinen mal nippen. Eierlikör oder Kirschlikör, denn das Süße schmeckt beiden. Ein Gläschen in Ehren ... „Doch“, sagt Krauß heute, „das muss man verwehren.“ Seine Enkel jedenfalls bekommen nie Alkohol von ihm zum Kosten. Er hat sich sogar die Cognacbohnen verboten.

Ammendick nannte man das Lieblingsgetränk in seiner Familie. Das klang bodenständiger als Aromatique. Andere Gesöffe hießen Kommodenlack oder Kumpeltod. „Rhöntropfen“ nimmt sich dagegen fast edel aus. Klebt auch nur bisschen. Der Magenbitter mit dem Wichtel auf dem Etikett wird immer noch produziert, doch die Kenner schwören: Er schmeckt nicht wie damals. „Er kaschiert das Saufen“, sagt Krauß. „Man trinkt ja so was angeblich nur zur Verdauung. Jede Thüringer Kirmes wurde mit ,Rhöni’ geölt. Ich weiß noch, wie mir danach die Knie schlackerten.“

Dort bei Meiningen in einer Kleinbauernfamilie hat Krauß seine Wurzeln, und er hört es gleich, wenn bei einer Abendführung Leute aus der Gegend dabei sind. Am Anfang fragt er, woher seine Gäste kommen. Aus Schwaben? „Da müssen Busse bei der Stadtrundfahrt den Anhänger nehmen, um das Trinkgeld zu transportieren.“ Aus Lübeck? „Ihr seid doch alle durch Salz reich geworden.“ Aus Chemnitz? „Das ist ja mal schön, ein Ossi.“

Fast auf den Tag genau vor 15 Jahren zog Wolfgang Krauß zum ersten Mal mit seiner Laterne los. Die Stadtrundfahrt hatte in einer Anzeige einen Busfahrer gesucht. „Das konnte ich nicht. Aber ich hab gesagt, dass ich mit Menschen kann.“ Seitdem hat er eine halbe Million Besucher durch die Dresdner Nacht gebracht. Jetzt bessert er damit zweimal die Woche die Rente auf. Er ist auch ohne Mikrofon gut zu verstehen. Für Leisetreter taugt das Amt des Nachtwächters nicht. Dafür braucht man die Lust zur Selbstdarstellung. Dieses Talent bringt Wolfgang Krauß mit. Es gehörte für ihn zum Trinken dazu. Im Rausch, sagt er, fühlte er sich bedeutend und stark wie andere, die einen Hundert-Kilo-Sack mit Getreide die Treppe raufschleppten. „Der Suff ersetzt die Realität. Nach ein paar Gläsern sieht die Welt anders aus.“ Alles schien möglich zu sein, jeder Getreidesack zu besiegen – und jede Frau sowieso. Krauß hat fünf Kinder von drei Frauen. „Alkohol ist ein Lustverstärker.“

Das hat sich lange herumgesprochen. August der Starke gründete eine Gesellschaft zur Bekämpfung der Nüchternheit. Der Nachtwächter auf seinem Rundgang nennt den Monarchen den Ursprung der MeToo-Bewegung. „Jetzt werden ihm 365 Kinder nachgesagt, aber kommen Sie mal in fünf Jahren wieder, da werden es zehnmal mehr sein.“

Er behauptet auch gern, dass das Herz des Herrschers in der Gruft der Hofkirche schneller schlägt, wenn Damen auf hohen Absätzen vorüberklackern. Da schlägt nun nichts mehr. Das Fashion Girl von heute trägt Turnschuh, wahlweise in Cleanweiß oder Knallbunt, mit Stahlkante oder Glitzer. Zwei Damen in der Gruppe, die als Herkunftsort Böblingen nennen, tragen Slipper mit Schachbrettmuster. Böblingen liegt im Trend. Beinahe wären die Damen auf das N im Pflaster vor der Hofkirche getreten. Der Nachtwächter bedauert sehr, dass es nicht für Nachtwächter steht. Es steht für Napoleon. Der Kaiser soll an diesem Ort seine siegreichen Truppen gefeiert haben. Viele solche Gelegenheiten hatte er danach nicht mehr.

Von dem französischen Gernegroß heißt es, er habe den Alkohol verabscheut. Ein Cognac trägt seinen Namen. Wolfgang Krauß lächelt. Er trank Gegorenes aus Löwenzahn und sonst querbeet alles, zur Freude oder zum Trost. Er sagt, dass er das belebende Gefühl zurückholen wollte, dieses Gefühl von Geborgenheit und die wohlige Wärme im Bauch. „Wenn man das einmal erlebt hat, will man das wieder und wieder. Mit jedem Trunk steigt die Lust auf das nächste Gedeck. Der Alkohol wird zum Zuchtmeister, dem man sich willig andient.“ In Deutschland sind jährlich rund 174 000 Todesfälle auf diesen riskanten Dienst zurückzuführen.

Aber ich hab das Trinken im Griff, sagt mancher. Krauß hat sich das oft gesagt. Dreißig Jahre lang war der Alkohol sein bester Freund. In dieser Zeit lernte er den Beruf des Forstarbeiters, war hauptamtlicher FDJ-Sekretär, begann in Pillnitz ein Studium als Agrarökonom und an der TU eines für Philosophie, arbeitete als Kellner im Italienischen Dörfchen und später bei der Mitropa. Die Frage des Oberkellners am Morgen hieß: Na, schon gefrühstückt? Die Antwort: Nein, noch keinen Tropfen.

Wolfgang Krauß erzählt, wie er in eine Metallfabrik in Radebeul wechselte und an einem Montag mit einem Freund zum Feierabendbier ging. Von dieser Woche, sagt er, weiß er nur noch, dass er von Kneipe zu Kneipe zog, in fremden Betten aufwachte und sich in einem erschreckend nüchternen Augenblick fragte: Was tust du hier eigentlich? Samstags kaufte er dann auf dem Neustädter Bahnhof von seinen letzten Markstücken eine Fahrkarte nach Arnsdorf und lieferte sich in die Heilanstalt ein. „Der Oberarzt fragte mich, warum ich glaube, alkoholabhängig zu sein. Ich sagte: Ich hätte promovieren können wie Sie – so aber bin ich eine gescheiterte Existenz.“

Von diesem Absturz im Leben des Nachtwächters erfahren die Gäste nichts. Er erzählt ihnen von den Fremden, die an der katholischen Hofkirche bauten und in Baracken wohnten, nach denen das Italienische Dörfchen seinen Namen bekam. Kein Wort über den Tresen dort. Lieber noch ein paar historische Hintergründe, nett verpackt in launige Anekdoten. Sie fallen je nach Publikum mehr oder weniger horizontal aus. Angeregt kichern einige Damen. Wer nachts durch die Stadt zieht, will danach nicht den Lebenslauf von Gottfried Semper fehlerfrei aufsagen können. Der Kerzenstumpel in der Laterne flackert.

Als der große Baumeister hier entlanglief, gab es Nachtwächter noch in Echtzeit. Seit dem Städtewachstum im Mittelalter warnten sie vor Feuer und Feind und ermahnten heimkehrende Zechbrüder zur Ruhe. Der Ruf der Männer war zu jeder vollen Stunde zu hören. Sie sagten nicht nur die Uhr an, sondern demonstrierten damit ihre Verlässlichkeit. So konnte jeder sicher sein, dass sie ihre Tätigkeit wirklich ausübten. Der Bundestag erwägt wohl, diesen Brauch einzuführen.

Krauß meint, der Bundestag sollte vor allem mal diskutieren, wer an dem hohen Alkoholverbrauch im Land interessiert ist: fast 140 Liter pro Kopf und Jahr. „Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss und Gaststätten hat 206 000 Mitglieder – das sind ja alles Lobbyisten!“, sagt er voll Zorn. „Die gesamte Gesellschaft säuft, und ich bilde mir nicht ein, dass ich daran was ändern kann.“

Er will es zumindest versuchen. Was bleibt einem Mann übrig, der eine Botschaft hat? Er schreibt ein Buch. Es heißt „Der Knall“. Der 71-Jährige schreibt auf, wie er in die Alkoholsucht hineingeriet und wieder hinaus. „Ich war trocken, als die Wende kam. Was bist du bloß für ein Blödmann, hab ich mir gesagt. Hast dir alles versaut. Was hättest du jetzt für herrliche Sachen trinken können!“ Das Buch hat Krauß auf eigene Kosten drucken lassen. Er will daraus in Schulklassen lesen oder dort, wo seine Saufkumpane von früher gestrandet sind.

Eine Stadtführung eignet sich für solche Lesungen weniger. Der Nachtwächter schreitet mit seiner Gruppe durch den Zwinger, wo er zum zwölfhundertsten Mal die Geschichte vom Hufeisen erzählt. Interessant ist nicht, dass August der Starke das Stück mit bloßen Händen zerbrach. Interessant ist, dass Dresdner Wissenschaftler stolz einen Materialfehler im Eisen bewiesen – und damit leider eine Legende entzauberten. Ein kleines hämisches Lachen lockt der Nachtwächter immer heraus. Mit dem Zehner-Läuten der Porzellanglocken verabschiedet er die Gäste.

Wolfgang Krauß nickt den beiden Männern vom Wachdienst zu. Sie schließen das Zwingertor. Die Kerze in der Laterne ist runtergebrannt. Andere wünschen sich nun einen Absacker. Krauß sagt, dass er daran nicht einmal denkt.