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Auf Zahnstangen durch den Wald

Es war am 22. Mai 1993, als die Zeit der einstigen Königshainer Eisenbahn endgültig zu Ende ging.

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© Archivfoto: Wilfried Rettig

Von Ralph Schermann

Königshain. Görlitz um das Jahr 1900: Die Eisenbahn hat längst Einzug gehalten, nach allen Himmelsrichtungen führen Schienen. Nur nicht nach Nordwesten. Dabei besteht gerade dort großer Bedarf. Königshainer Granit war bereits 1894 für den Sockel des Berliner Reichstages geliefert worden, ist begehrt, doch der Transport auf der Straße teuer. Landwirtschaften und Postämter sind noch immer ausschließlich auf Fuhrwerke angewiesen, und die 1895 eröffnete Hochsteinbaude hofft auf Ausflügler.

Der letzte Zug nach Königshain am 23. Mai 1993 und zurück nach Görlitz – das lockte Anwohner und Eisenbahnfreunde auf den Bahnhof Königshain-Hochstein.
Der letzte Zug nach Königshain am 23. Mai 1993 und zurück nach Görlitz – das lockte Anwohner und Eisenbahnfreunde auf den Bahnhof Königshain-Hochstein. © Rolf Ullmann
Heute verläuft ein Radweg auf der ehemaligen Eisenbahnstrecke.
Heute verläuft ein Radweg auf der ehemaligen Eisenbahnstrecke. © Steffen Gerhardt

Doch Ideen einer Bahnlinie in dieses Gebiet werden 1888/1889 von preußischen Ministerien abgelehnt. Erst 1903 sind die gröbsten Schwierigkeiten Geschichte. Die Görlitzer Kreisbahn AG konstituiert sich mit einem Grundkapital von 1,7 Millionen Mark. Schon einen Monat später erfolgt der erste Spatenstich auf Ebersbacher Flur. Dort wird auch der Grundstein für die noch heute bekannte Schöpsbrücke gelegt. Vor Liebstein rücken Sprengkommandos an, um ein Grünsteinmassiv abzutragen. Zur Begradigung der Strecke muss in Königshain ein acht Meter tiefer Einschnitt geschaffen und an anderer Stelle als gleich hoher Damm aufgeschüttet werden. Jenseits der Wasserscheide auf der heute nicht mehr erkennbaren Strecke zwischen Königshain-Wald und Arnsdorf-Hilbersdorf ist die Neigung von etwa 46 Prozent nicht zu beseitigen. Hier wird aus der Kreisbahn fortan eine Gebirgsbahn mit einem Zahnstangen-Bahnabschnitt. Er besteht bis 1936 auf 1 600 Meter Länge, danach stehen ausreichend starke Lokomotiven bereit.

Am 12. März 1905 erfolgt die landespolizeiliche Abnahme der Teilstrecke bis Königshain, ab 20. März rollt der Güterverkehr. Steinbruchbesitzer von Thaden ist begeistert und schickt allein in den ersten zehn Wochen schon 150 Wagen mit Granit auf die Reise. Am 27. Mai 1905 wird die Strecke bis Krischa-Tetta abgenommen. Schon einen Tag darauf gibt es den ersten Unfall: Eine Lok entgleist.

Der reguläre Personenverkehr setzt am 31. Mai 1905 ein. Ein Sonderzug macht zunächst allerlei Ehrengäste mit der neuen Strecke vertraut. Die Bevölkerung nutzt die Verbindung schnell. Bis Ende 1905 nimmt die Kreisbahn rund 5 000 Mark an Fahrkarten und 6000 Mark aus dem Gütertransport ein. Am 16. Dezember 1913 schließlich fährt erstmals ein Zug von Görlitz bis nach Weißenberg. Dort gibt es übrigens seit 1895 Bahnanschluss nach Löbau und seit 1906 nach Bautzen.

Trotz Stagnation im Ersten Weltkrieg und in der Zeit der Inflation erlebt die Kreisbahn weiteren Aufschwung. Bis 1924 bekommt sie sechs weitere Industrieanschlüsse in Görlitz. In Königshain-Liebstein kommt 1927 eine neue Haltestelle an die Strecke. Insgesamt 20 Straßen und 81 Feldwege kreuzen die 26,7 Kilometer lange Bahnstrecke. Die Lokführer haben durchschnittlich alle 264 Meter eine Pfeif- und Läutetafel zu befolgen. 13 Brücken werden befahren, sechs Wasserkräne unterwegs aufgestellt. 1931 gilt die Kreisbahn als bestgeführte Kleinbahn im gesamten Reichsbahndirektionsbezirk Breslau.

Im Zweiten Weltkrieg wird ein Anschlussgleis zum Flugplatz gebaut und erhält dort auch eine Verladerampe. Es ist längst vergessen. Als das Ende des Krieges naht, befiehlt der Görlitzer Festungskommandant am 6. Mai 1945 die Verlegung der Kreisbahnausstattung. Um 18 Uhr setzt sich daraufhin ein Zug aus zwei Loks, einem Triebwagen, acht Personen- und mehreren Güterwagen in Richtung Sebnitz in Bewegung. Viele Bedienstete fahren mit. Nur wenige Eisenbahner und auch nur eine Lok bleiben als Notbetrieb in Görlitz. Am 16. Juli 1945 geht das Teilstück bis Ebersbach wieder in Betrieb. Ende August ist die gesamte Strecke wieder befahrbar. In den Besitz der Deutschen Reichsbahn geht die Bahn am 11. Mai 1948 über und bewährt sich weitere zwei Jahrzehnte. Dann macht sich die zunehmende Motorisierung der Bevölkerung ebenso bemerkbar wie die Schließungen der Königshainer, Arnsdorfer und Hilbersdorfer Steinbrüche. Am 30. September 1972 fährt der letzte Zug zwischen Weißenberg und Görlitz. Die Gleise werden abgebaut, und nur Insider finden heute noch einige Stellen der alten Strecke wieder. Auch zahlreiche Industriegleisanschlüsse werden stillgelegt.

Was zunächst bleibt, ist die Touristenstrecke zwischen Königshain und Görlitz. Auf ihr wird 1965/66 nach den Dampfloks auch ein Dieseltriebwagen eingesetzt. Erste Triebwagen mit Verbrennungsmotor hatte es bereits 1940 bis 1952 mit einer Wumag-Kreation gegeben. Den neuen Leichttriebwagen tauft die Bevölkerung ob seiner weinroten Farbe „Blutblase“. Es setzt sich nicht durch, dafür kommen ab 1970 regulär Dieselloks zum Einsatz.

In besten Zeiten sind sieben Zugpaare je Tag keine Seltenheit, 1990 sind es noch drei. Nach der Wende brechen auch die restlichen Fahrgastzahlen weg, selbst die Schienenersatzbusse fahren meist fast leer, nachdem am 22. Mai 1993 ein letzter Zug die Geschichte der Kreisbahn beendet. 25 Jahre ist das jetzt her, als noch einmal sogar eine Fahrt aus Richtung Weißenberg vorgetäuscht wird: Die Eisenbahner ziehen den letzten Zug so weit es irgtendwie geht auf die längst sehr morsch gewordenen Schwellen, die noch gut 300 Meter nach dem Königshainer Hochsteinbahnhof liegen und simulieren für die vielen Fotofreunde noch einmal eine Einfahrt aus dieser Richtung. Punkt 16.41 fährt dann der allerletzte Personenzug gen Görlitz ab.

Eine kurze Zeit gibt es auf den Kreisbahngleisen noch Güterverkehr zwischen Görlitz und Ebersbach, ehe das Zertrennen der Gleisauffahrt in Höhe der Brücke Laubaner Straße auch dieses Zwischenspiel endgültig zu den Akten legt. Heute liegt ein asphaltierter Radweg auf dem alten Damm, und ob sich das Projekt Museumsbahnhof in Königshain erfüllen kann, wird immer unwahrscheinlicher.

Zum Weiterlesen: Mehr zu diesem Thema vermittelt der profunde Eisenbahnexperte Wilfried Rettig in seinem üppig illustrierten Fachbuch „Die Görlitzer Kreisbahn“, erschienen im Eisenbahn-Kurier-Verlag (EKV) mit

128 Seiten, etwas größer als A4, zum Preis von 29,80 Euro.