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Arbeit als Medizin

Ein neues Kooperationsprojekt im Landkreis hilft älteren Erwerbslosen. Sie bekommen ein Betätigungsfeld zurück. Und noch mehr.

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© Egbert Kamprath

Von Gunnar Klehm

Das Leben hat jetzt wieder viel mehr Sinn, sagt Rosemarie Heinz. Wie selbstverständlich betritt sie die kleine Villa an der Weißeritzstraße in Dippoldiswalde, und zwar regelmäßig. Dort hat der Kinderschutzbund sein Domizil. Vor einem Jahr wäre das für die 60-Jährige noch nicht vorstellbar gewesen. Was hätte sie da gesollt? Wer hätte sie schon gewollt? 15 Jahre Arbeitslosigkeit hatten ihre Spuren hinterlassen. Das greift erst die Seele an und irgendwann wird man tatsächlich krank. So beginnt ein Teufelskreis. Wer krank ist, den kann die Arbeitsagentur nicht vermitteln. Wer keine Arbeit hat, wird krank. Langzeitarbeitslose wie Rosemarie Heinz haben zwar zahllose „Maßnahmen“ mitgemacht, an der grundsätzlichen Lebenssituation der gelernten Plastfacharbeiterin hat sich aber nichts geändert.

Zwar geht insgesamt die Arbeitslosigkeit im Landkreis stark zurück. Beim Anteil der über 50-Jährigen fehlt diese Dynamik allerdings. Hier einen neuen Ansatz zu finden, haben Arbeitsagentur und Jobcenter sowie der Verband der Ersatzkrankenkassen lange gesucht und offenbar gefunden. Im „Modellprojekt zur Verzahnung von Arbeits- und Gesundheitsförderung in der kommunalen Lebenswelt“ wurden spezielle Gesundheitskurse für Erwerbslose entwickelt. Das soll die Jobchancen aber auch die Lebensqualität und damit die Gesundheit der Arbeitslosen verbessern. Solche Angebote gibt es inzwischen in jeder Region des Landkreises.

Rosemarie Heinz gehörte zu den ersten zehn Langzeitarbeitslosen, die Ende 2017 einen solchen Kurs besuchten. Von denen haben drei inzwischen einen richtigen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden, andere haben eine Stelle im Bundesfreiwilligendienst angenommen. Zwar hat das bei Rosemarie Heinz noch nicht geklappt, aber sie hat ehrenamtliche Tätigkeiten im Kinderschutzbund übernommen. „Das ist ja auch Arbeit“, erklärt sie, auch wenn das nicht bezahlt wird. Wie sie das sagt, merkt man ihr an, dass sie glücklich und auch ein bisschen stolz darauf ist, dass sie wenigstens das erreicht hat.

So beeinflussen sich Arbeitslosigkeit und Gesundheit

Die Gefahr, krank zu werden, steigt mit Dauer der Erwerbslosigkeit, dem Alter und sinkendem sozialökonomischen Status. Das kann zur Verhärtung der Arbeitslosigkeit führen.

Mit dem 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetz können Arbeitslose erstmals Zielgruppe der Gesundheitsförderung sein.

Gesetzliche Krankenkassen (GKV) sind gesetzlich verpflichtet, Präventions- und Gesundheitsförderangebote für Versicherte bereitzustellen, insbesondere für sozial benachteiligte Zielgruppen.

In Sachsen beteiligen sich aktuell fünf Arbeitsagenturen und acht Jobcenter an der Kooperationsvereinbarung mit den gesetzlichen Krankenversicherungen.

Im Vergleich zu Beschäftigten haben Arbeitslose elf Arbeitsunfähigkeitstage mehr im Jahr (BKK Gesundheitsreport 2012).

Psychische Beeinträchtigungen sind laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Studie von 2013) mit ca. 35 % die häufigste Erkrankungsart bei Arbeitslosen (21 % bei Beschäftigten). Das Robert-Koch-Institut hat 2012 ermittelt, dass Arbeitslose eine höhere Mortalität und weniger Lebensjahre in guter Gesundheit haben.

Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge wurde im Oktober 2017 eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek), der federführend ist, und der Agentur für Arbeit Pirna und Jobcenter Sächsische Schweiz-Osterzgebirge geschlossen. Das Modellprojekt ist vorerst auf zwei Jahre angelegt und wird von den GKV finanziert.

Die Kursangebote basieren auf freiwilliger Basis und beinhalten z.B. Stressbewältigung, gesunde Ernährung, Zeitmanagement, Bewegung etc. Ansprechpartner für interessierte Arbeitsuchende sind ihre zuständigen Berater in Arbeitsagentur bzw. Jobcenter.

Teilnehmen können alle Arbeitssuchenden, also beispielsweise auch vor Wiedereinstieg nach Elternzeit. Das ist nicht auf Langzeitarbeitslose beschränkt.

Quelle: Arbeitsagentur Pirna

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Wie konnte so viel in Bewegung geraten? Jahrelang hatte die Arbeitsagentur doch auch alles Mögliche versucht. Und jetzt sollte ein Gesundheitskurs von sechs mal vier Stunden das komplette Leben verändern? Für die Organisatoren war das keine Überraschung mehr, nachdem die Modellregion Plauen, wo es diese Kurse schon länger gibt, ausgewertet wurde.

Das Erfolgsgeheimnis liegt in einem komplexen Zusammenspiel aller Beteiligten. Mit Gesundheitskursen kennen sich die Krankenkassen aus. Die Jobcenter wissen aufgrund ihres engen Kontaktes zu den Arbeitssuchenden, was für wen passend sein könnte. Dazu muss es dann eine soziale Gruppe in der unmittelbaren Umgebung der Arbeitslosen sein, wo es einen unkomplizierten Anschluss geben kann.

Schwellenangst verloren

Das sind in Freital beispielsweise der A//S-Verein, in Neustadt das Mehrgenerationenhaus oder in Pirna das Familienzentrum. In Dippoldiswalde ist es der Kinderschutzbund. Dessen Chefin, Barbara Stanja, stellt dafür die Räume zur Verfügung. Ihr war klar, dass es langzeitarbeitslose Menschen geben musste, die vermutlich ziemlich einsam auf Besserung hoffend ihr Dasein fristeten und womöglich dankbar sein könnten für eine sinnvolle Tätigkeit. Die gibt es in Haus und Garten des Kinderschutzbunds genug, wenn auch im Ehrenamt. Aber auch das kann Erfüllung bringen.

Den eigentlichen Gesundheitskurs leitet hier Bettina Fischbach, eine freiberufliche Sozialpädagogin, die auch Ausbilderin an der Evangelischen Hochschule in Dresden ist. „Es geht um eine ganzheitliche Herangehensweise, um wieder am sozialen Leben teilzunehmen“, sagt sie. Dabei geben sozialtherapeutische Rollenspiele einen wichtigen Impuls. Es werden Trainings für Achtsamkeit, gesunde Ernährung und Stressbewältigung gehalten. Jeder Arbeitslose nimmt zwar freiwillig daran teil, trotzdem gibt es eine klare Struktur, wann die vier Stunden beginnen und enden. „Jeder spricht nur von sich. Keiner darf den anderen bewerten. Es gibt kein richtig oder falsch“, sagt Fischbach.

Es dauerte nicht lange, dann veränderten die Kursteilnehmer im wahrsten Sinne des Wortes ihre Haltung, ihr Auftreten und Teile des Alltags. Aus der Gruppe selbst heraus entwickelte sich eine Wertschätzung füreinander, die sie lange nicht mehr hatten und von allen als Bereicherung gewertet wurde. „Die Menschen haben so ihre Würde wiederbekommen“, sagt Fischbach.

Das sind zwar nicht die Worte, die Rosemarie Heinz in ihren einfachen Verhältnissen benutzt, aber sie ist dankbar für diese Erfahrung und empfiehlt es jedem weiter, der ähnlich in diesem Kreislauf der Langzeitarbeitslosigkeit gefangen ist wie sie.

Mit diesem neuen Selbstbewusstsein kann man auch sofort etwas anfangen. Die gewählten Orte für die Kurse sind lebendig, es gibt keine Schwellenangst. Rosemarie Heinz fühlt sich jetzt wieder mutig genug, eine neue Herausforderung anzugehen.

Seit immer mehr Menschen den Mut finden, offen zu ihren Burn-out-Erkrankungen zu stehen, ist den meisten Menschen bewusst, dass zu viel Arbeit krank machen kann. Dass es das Gegenteil auch tut, ist weniger populär.