Merken

Am Rande der Stadt, aber gefühlt im Zentrum

Das Festspielhaus Hellerau wurde unter Dieter Jaenicke wieder eine Top-Adresse – vor allem für Tanz. Jetzt geht der Chef.

Teilen
Folgen
© Ronald Bonß

Von Bernd Klempnow

Das Tief ist überwunden. „Im vergangenen Jahr hatte ich mal einen Durchhänger“, sagt Dieter Jaenicke, scheidender Intendant des Festspielhauses Dresden-Hellerau. „Doch das ist alles längst gut verarbeitet. Das Haus ist bestens aufgestellt. So kann ich loslassen und mich auf neue, spannende Aufgaben freuen.“ Der 68-Jährige wird in wenigen Tagen verabschiedet. Die Theaterspezialistin Carena Schlewitt wird das Institut künftig leiten.

Die Bilanz der fast zehnjährigen Amtszeit von Jaenicke ist, wie er findet, „super positiv“. Als er, einer von 40 Bewerbern für den Job, anfing, gab es weder eine „wirklich funktionierende Arbeitsstruktur noch ein Ganzjahresprogramm“. Der Etat sei winzig gewesen. Ziemlich großspurig im anfänglichen Auftreten versprach er, Hellerau zu einem der Zentren für zeitgenössisches Theater im Osten zu profilieren.

Besucher- und Geldrekorde

Das ist ihm und seinem Team tatsächlich gelungen – mehr noch. Hellerau erlebt eine Hoch-Zeit knapp zehn Jahre nach der Wiedereröffnung des vor 100 Jahren gebauten und lange vernachlässigten Hauses. „Wir haben die Besucherzahlen vervierfacht. Unsere Einnahmen sind dank Förderprogrammen und Kooperationen fast so hoch wie der städtische Zuschuss, sodass wir einen sensationellen Eigendeckungsgrad von 48 Prozent haben.“ Es sei gelungen, dass der Bund das Haus als eines der wenigen im Osten kontinuierlich fördert.

Um die 200 eintrittspflichtige und etwa 150 eintrittsfreie Veranstaltungen, Gastspiele und viele Eigenproduktionen, oft auf Top-Niveau, finden statt. „Wir spüren wachsenden, internationalen Zuspruch für diesen Ort, der einst die Wiege des modernen Tanzes war.“ Es gebe ein großes Stammpublikum. Er sei stolz, dass es „gelungen ist, Hellerau seiner Geschichte entsprechend wieder als ideale Bühne des Tanzes und der Performance im Bewusstsein zu verankern und weltweit zu vernetzen.“ Hellerau liegt als „unglaublich lebendiger Ort“ zwar am Rande der Stadt, aber „gefühlt im Zentrum“. Und bald auch in Venedig und Prag, denn die im vergangenen Herbst gelungene Rekonstruktion der revolutionären Appia-Bühne von vor 100 Jahren wird auf der Architektur-Biennale am Lido und auf der Bühnenbild-Quadriennale an der Moldau zu sehen sein.

Ansonsten gilt: Mit seinem facettenreichen Angebot, seinen Residenzen, Eigen- oder Koproduktionen gehört Hellerau zu den erfolgreichsten Produktionszentren in Europa. Und obwohl es nicht Jaenickes Aufgabe war, fand die freie lokale Szene in ihm einen Förderer. Die Reihe „Linie 08“ mit dem Tanznetz Dresden trug wesentlich zur Professionalisierung der hiesigen Szene bei. Zudem gab es das jährliche Heimspiel „Bandstand“ der 20 besten Dresdner Bands als Spiegelbild der Szene. Eine interkulturelle Reihe für Kinder und das Festival Kids on Stage gehörten ebenso zum Profil wie Chorwerkstätten, Uraufführungen, Festivals, der „Portraits Photography Award“ oder Workshops wie „ArtRose“ für alle ab 60. „Wir wollten ein Ort für große Kunst und kleine Schritte, ein Ort für Empathie, Emotion und neue Wege sein.“

Bundesweite Aufmerksamkeit fand auch das Hellerauer Engagement für Geflüchtete. „Komisch, das angesichts dieser Bilanz Kommunalpolitiker auch etablierter, demokratischer Parteien immer wieder versuchen, uns mies zu machen.“

Heute spricht Jaenicke von einer Liebesbeziehung zu Hellerau. Anfangs sah es nicht danach aus. „Das Image des Hauses war zu sehr im Eimer. Es gab viele Momente, da glaubte ich nicht, dass es klappt. Zwei Jahre hat es gedauert, bis die Leute merkten, es lohnt, zu kommen.“

Der Dienstreisekönig Dresdens

Auch in seinen letzten Amtsmonaten haben noch einmal die weltbesten Choreografen und Compagnien gastiert, hatten viele lokale Künstler große Auftritte. „Wir planen gern Projekte, die Unruhe schaffen sollen oder einfach zum anregenden Genuss einladen.“ So wird an diesem Wochenende erneut die kanadische TanzIkone Louise Lecavalier ihre David Bowie gewidmete Arbeit „So Blue“ zeigen.

Dass die Topleute nach Dresden kommen, das hat seinen Preis. Man muss gute Kontakte zu ihnen pflegen. Das tat und tut Jaenicke und wurde damit Dienstreisekönig der Dresdner Verwaltung. Skandal hieß es, als bekannt wurde, dass das Team des Festspielhauses 63 400 Euro für 36 Auslandsflüge rund um den Globus 2015 ausgegeben hatte und 2014 knapp 48 000 Euro. Der Intendant reiste interkontinental sogar Business Class – was sein Vertrag vorsieht und ihm der Kulturbürgermeister auch genehmigte.

Die Auflösung: Die vielen Auslandsreisen hatten mit den Vorbereitungen auf zwei Festivals zu tun, die es so in Deutschland noch nicht gegeben hatte: „Rom AmoR“ war eine überfällige Hommage an die vielfältigen Sinti- und Romakulturen. Das „Projeto Brasil“ bot Kunst, Performance und Widerstand aus dem Land der letzten Olympischen Spiele.

Für beide, teils national eng vernetzte Projekte zog Jaenicke mit gut recherchierten und formulierten Programmen Förderungen der Bundeskulturstiftung und anderer Stiftungen in Höhe von über 450 000 Euro an Land. Mittel also, die Sachsen nicht aufbringen musste, und – quasi zum Minimaltarif der Reisekosten – trotzdem anregende Kunst dafür bieten konnte. Das Fazit der Sächsischen Zeitung jedenfalls lautete: „Mehr Dienstreisen, bitte!“

Was bringt die Zukunft? Der nun scheidende Chef wird der neue Leiter der internationalen, biennalen Tanzmesse NRW. Die gilt als weltweit größte Tanzmesse. Außerdem ist er als Kurator des Vancouver Dance Festivals gewonnen worden. Gerade wurde er zum Berater des Kulturministeriums von Taiwan ernannt. Dieter Jaenicke, der schon Festivals in Hannover, Hamburg und Aarhus geleitet hatte und Generalsekretär des Weltkulturforums Rio de Janeiro gewesen ist, ist da ganz bei sich: „Langeweile habe ich nie kennengelernt.“

Gastspieltipp: Louise Lecavalier am Freitag und Sonnabend, je 20 Uhr, Kartentel. 351 2646246