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Altes Dresden wird lebendig

Mit ihrem Smartphone sollen Touristen und Dresdner bald in die Vergangenheit eintauchen.

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© Deutsche Fotothek/Sander Münster

Von Jana Mundus

Nur eine kurze Bewegung - dann beginnt die Zeitreise. Plötzlich verändert sich der Dresdner Neumarkt. Die helle Fassade der Frauenkirche wird augenblicklich dunkel und alt. Der Blick wandert nach links. Das Johanneum, Jüdenhof, Dinglingerhaus… die Farben verschwinden, alles in Schwarz-Weiß und irgendwie anders.

Die Bildpunkte zeigen, für welchen Standort historisches Fotomaterial existiert. Klickt man sie an, erhält das graue Modell das Aussehen der Fotos
Die Bildpunkte zeigen, für welchen Standort historisches Fotomaterial existiert. Klickt man sie an, erhält das graue Modell das Aussehen der Fotos © Jonas Bruschke

Die Gebäude zeigen eine Realität, die lange vorbei ist. Einen Zustand, der 100 Jahre alt ist. Bald kann ihn jeder sehen, der auf dem Neumarkt steht. Er muss sich dafür nur ein Smartphone vor die Augen halten. Dresdner Wissenschaftler arbeiten an einem Projekt, das die Geschichte Dresdens lebendig machen will.

Noch ist es die Testversion. Sander Münster dreht sich um die eigene Achse und hält dabei ein Tablet in den Händen. Mit diesem Gerät funktioniert auch, was in wenigen Jahren Touristen und Dresdner nutzen sollen. Während er sich bewegt, verändern sich die Bilder des Neumarkts auf dem kleinen Bildschirm, den er hält. Die Wirklichkeit wird überlagert von der Vergangenheit. Die Historie schiebt sich vor die neu gebauten Häuser im Herzen Dresdens. Man sieht, wie es hier einmal ausgesehen hat, bevor der Krieg alles zerstörte.

Augmented Reality heißt diese technische Möglichkeit. „Der Realität wird dabei etwas hinzugefügt“, erklärt es Münster. Der promovierte Wissenschaftler leitet seit 2012 die Abteilung Mediendesign und Produktion am Medienzentrum der TU Dresden. Und seit drei Jahren das Projekt, das Dresdner Geschichte aus neuen Blickwinkeln betrachten will. Dafür tauchen Münster und seine Kollegen ganz tief ein in Vergangenes. Rund 30 000 Fotografien aus dem Bestand der Deutschen Fotothek der Slub stehen ihnen zur Verfügung. Die historischen Fotos dienen gleich für zwei neuartige Anwendungen, die es so noch nicht gibt.

Der Ursprungsgedanke war einfach: Wie kann Stadtgeschichte intuitiv vermittelt werden? „Dabei geht es uns nicht nur um eine Möglichkeit für Touristen, sondern auch um ein Werkzeug für Wissenschaftler“, sagt der Projektleiter. Kristina Friedrichs, Expertin für Architekturgeschichte im Projekt, schaut sich die vielen Fotos des historischen Dresdens ganz genau an. Für sie interessant: Wie haben die Fotografen die Gebäude festgehalten? Aus welchen Blickwinkeln taten sie das? Und wie beeinflussten sie damit das Bild Dresdens, das wir heute im Kopf haben und das durch die Bautätigkeit rund um die Frauenkirche wiedererstanden ist?

Wer heute ein Foto aus der Stadthistorie sucht, benutzt dafür Schlagworte: Frauenkirche, Zwinger, Semperoper. „Wir haben eine Möglichkeit gesucht, bei der sich der Suchende direkt zum gewünschten Ort bewegen kann“, erklärt Münster. Grundlage dafür ist ein Stadtmodell Dresdens am Computer, wie es auch die Stadtverwaltung für ihre Arbeit nutzt. Die Gebäude sind dabei grob geformt. Details werden erst durch ergänzende Fotos möglich. Dafür ist Jonas Bruschke zuständig. Er überzieht das Computermodell mit Informationen aus den Fotos – verpasst den Häusern so eine Hülle, eine Textur. Bruschke zeigt, wie es später funktionieren soll. Am Monitor ist das dreidimensionale Modell des Zwingers zu sehen. Noch erscheint es grau. Rundherum zeigen kleine Punkte an, für welche Betrachtungsrichtungen Fotos vorhanden sind. Er klickt einen an und sofort zeigt der Bildschirm genau diesen Standort des Fotografen und taucht den Zwinger augenblicklich in das Kleid der Fotografie. Ein weiterer Klick und der Zwinger verändert sich etwas, ein Foto aus einer anderen Zeit umhüllt ihn nun. „Für Forscher eröffnen sich so vollkommen neue Möglichkeiten der Recherche“, erklärt Bruschke, der bei seiner Arbeit auch mit den Informatikern der HTW Dresden zusammenarbeitet.

Es ist ein Stadtmodell in 4-D, das bis 2020 am Computer entsteht. Die Wissenschaftler beziehen dafür nicht nur räumliche Informationen ein, sondern auch die Zeit. Wer später sehen will, wie sich ein Gebäude verändert hat, wird auch das sehen können. Die Forscher beschränken sich derzeit auf die historische Altstadt von Dresden. „Wenn am Ende des Projekts die Technologie funktioniert, könnte man den Radius natürlich erweitern“, sagt Münster. Die technische Lösung war nicht einfach. Bisher verwendete Algorithmen hatten Schwierigkeiten, die notwendigen Informationen aus historischem Bildmaterial herauszufiltern. Was die Dresdner können, darauf sind auch andere aufmerksam geworden. Die Stadt Venedig hat Interesse an einem 4-D-Modell nach Dresdner Vorbild. Und auch mit Amsterdam sind die Wissenschaftler im Gespräch.

An der Universität Würzburg sorgt Florian Niebling dafür, dass auch die Touristen bald etwas zu sehen bekommen. Er hat einige Jahre in Dresden gearbeitet und ist nun ebenfalls Teil des vom Bundesforschungsministerium mit zwei Millionen Euro unterstützten Projekts. Er arbeitet am Prototyp für die Technik, die später die Augmented Reality in der Dresdner Altstadt möglich machen soll. Dafür müssen die im 3-D-Modell verorteten und verarbeiteten Bilder mit tatsächlichen Punkten in der Wirklichkeit verbunden werden. Damit der Betrachter später an seinem Standort auch die richtigen Bilder auf seinem Smartphone eingeblendet bekommt. Zusätzlich sollen später auch Informationen zu den Gebäuden angezeigt werden und eventuell Internetartikel verlinkt werden. Eine Überlagerung der Wirklichkeit ist 1:1 möglich, sagt Niebling. Voraussetzungen sind jedoch ein schnelles Smartphone, eine gute Internetverbindung und gute Lichtverhältnisse.

Bis zum Ende des Projekts soll ein großer Teil der neuen Möglichkeiten derart ins historische Dresden einzutauchen, für die Öffentlichkeit nutzbar sein. „Eine funktionierende Handy-App für jedermann werden wir aber bis dahin noch nicht zur Verfügung haben“, bremst Münster allerdings. Doch er hofft auf ein Folgeprojekt, das genau das möglich machen soll. Damit bald jeder mit seinem Smartphone auf Zeitreise gehen kann.