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Als spiegelten sich Engel im Wasser

Vor 82 Jahren kam Ingrid Struckmann in Dresden zur Welt. Als sie sieben war, wurde ihre Mutter depressiv – und fiel der „Medikamenten- Euthanasie“ der Nazis zum Opfer.

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Von Oliver Reinhard

Es gibt einen Ort, an dem Ingrid Struckmanns Hoffnung ein wenig Halt findet: an einer Mauer, am eisernen Tor darin, auf der Brache dahinter, wo unter Baumkronen eine verwitternde Skulptur ihren steinernen Leib gegen den Wind und die Zeit stemmt. Dass hier, mitten in der Einsamkeit der Felder südlich von Pilsen, einst ein Gräberfeld war und die Erde immer noch Tote birgt; nichts erinnert daran. Zu gründlich wurde alles eingeebnet, vor zu vielen Jahren schon, für eine Fasanerie, die ebenfalls längst wieder verschwunden ist, spurlos wie das Gräberfeld, als hätte es beides nie gegeben.

Ingrid Struckmann mit ihrer Enkelin. Die Zwanzigjährige heißt Margaretha – wie ihre Urgroßmutter. Foto: Maxim Sergienko
Ingrid Struckmann mit ihrer Enkelin. Die Zwanzigjährige heißt Margaretha – wie ihre Urgroßmutter. Foto: Maxim Sergienko
Der aufgelassene Anstaltsfriedhof im tschechischen Dobrány. Wurde Margareta Schmits hier bestattet? Foto: Boris Böhm
Der aufgelassene Anstaltsfriedhof im tschechischen Dobrány. Wurde Margareta Schmits hier bestattet? Foto: Boris Böhm

Für Ingrid Struckmann ist dieser Ort in Tschechien mehr als nur ein aufgelassener und vergessener Friedhof. Irgendwo hinter dieser Mauer und diesem Tor, so glaubt sie zumindest, hat ihre Mutter die letzte Ruhestätte gefunden. „Ich hätte nur gerne wirkliche Gewissheit“, sagt sie. „Und vielleicht eines Tages sogar eine kleine Tafel, die hier an meine Mutter, an die anderen Toten und an deren Schicksale erinnert.“

Ihre Mutter war Margareta Schmits, 1902 in Schweden geboren, später Kunststudentin in Dresden, nach Heirat in Berlin und früher Scheidung 1934 zurückgezogen an die Elbe mit der damals vierjährigen Ingrid.

Die anderen waren mindestens mehrere Hundert. Sie starben während des Zweiten Weltkriegs ein paar Steinwürfe nordwärts des Friedhofs in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesengrund, dem heutigen Dobrány, und wurden hier verscharrt.

Ihr Schicksal war die Vernichtung. Sie wurden zu Opfern der „Medikamenten-Euthanasie“ der Nationalsozialisten. Die ließen von 1939 bis 1945 zwischen 100 000 und 150 000 geistig und körperlich Erkrankte töten. Zumeist durch überdosierte Abgabe von Beruhigungs- und Schlafmitteln und durch gezieltes Verhungernlassen. Viele dieser „lebensunwerten Leben“ endeten erst nach einer Odyssee von Anstalt zu Anstalt. Ein Kreislauf der Massentötung, beamtensorgfältig organisiert bis zur letzten Leidensstation.

Die hieß auch für Margareta Schmits Wiesengrund. Dort kam sie 1941 im Alter von 39 Jahren ums Leben. Genaueres weiß ihre Tochter nicht. „Man müsste in den Anstaltsbüchern von Dobrány nachforschen“, sagt Ingrid Struckmann. Doch deren Inhalt fällt laut Gesetz unter das Medizingeheimnis, für die Dauer von 100 Jahren.

So bleiben Fragen dort, wo Ingrid Struckmann auf Antworten hofft, auf ein bisschen mehr Gewissheit. Birgt die Erde jener Brache wirklich die Überreste ihre Mutter? Woran genau ist sie gestorben? Und wie genau? Obwohl ... man muss nicht unbedingt alles wissen. Jedenfalls nicht jedes Detail. Nur das Wichtigste, das würde schon genügen: dass ihre Mutter einen Platz hat, nicht nur in der Erinnerung. Und dass man es an diesem Platz vielleicht irgendwann irgendwie sagen oder schreiben kann: Hier ruht ein Mensch, der nicht namenlos war. Der ein Leben gehabt hat. Und eine Tochter.

Ingrid Struckmann ist keine gramgebeugte Frau. Sie wuchs in einem Potsdamer Internat auf und besuchte ihren Vater und dessen zweite Gattin regelmäßig in Berlin, sie heiratete, bekam Kinder und Enkel und lebt immer noch ein schönes Leben in der Geborgenheit ihrer Familie. Kostüm und Schmuck zeugen von unaufdringlicher Eleganz und passen prächtig zum Lächeln, dass sie oft und gerne im wachen Gesicht trägt.

„Hier.“ Ihr schlanker Finger tippt auf eine Seite des Fotoalbums, das sie hervorgeholt hat, vorsichtig; es ist nicht mehr das Jüngste. „Hier, das sind wir beide“: eine Frau im weißen Sommerkleid, das dichte Haar zerteilt ein modischer Seitenscheitel, ihre Arme umschließen ein strahlendes Mädchen, Ingrid, sie steht auf einem Stuhl. Über ihnen weht eine Hakenkreuzfahne. „Da sind wir an der Ostsee. Das war der letzte Urlaub, bevor es passiert ist.“ Ingrid Struckmanns Mund lächelt noch immer. Ihre Augen tun es nicht mehr.

„Es“ passierte 1938. Margareta Schmits reiste mit Ingrid nach Triest an die italienische Adria. Sie unternahmen einen Schiffsausflug, es war herrliches Wetter, auf dem Rückweg ging die Sonne unter wie im Märchen. „Da hat meine Mutter auf das Meer gezeigt, hat gelächelt und gesagt: ,Schau mal, das sieht ja aus, als würden sich Engel im Wasser spiegeln.‘ Dann stand sie auf, ganz ruhig, ging zur Reling ... und dann wollte sie sich ins Wasser stürzen.“

Andere Passagiere sahen es, reagierten und hielten Margareta Schmits zurück. An Land brachte man sie mit ihrer Tochter ins Hotel. In der Nacht habe ihre Mutter immer wieder versucht, aus dem Fenster zu springen, erinnert sich Ingrid Struckmann. „Am Morgen wurde sie in eine Triester Klinik gefahren. Ich weiß noch, dass ich mich an sie geklammert und furchtbar geschrien und geweint habe, den ganzen Tag, noch lange, nachdem man mich ihr weggenommen hatte. Das war das letzte Mal, dass ich meine Mutter gesehen habe.“

Einige Wochen später, Ingrid war inzwischen beim Vater in Berlin, wurde Margareta Schmits nach Dresden verlegt, mit der Diagnose „Exogene Depression“. Ob dafür ihr anhaltender Schmerz mitverantwortlich war? Darüber, dass sie nach kurzer Ehe und Geburt der Tochter von ihrem Mann für eine andere verlassen wurde? Sie kam in die Privatklinik des Mäzens, Nervenarztes und Naturheilkundlers Heinrich Stadelmann. Einmal noch hatte Frau Schmits Besuch von einer Freundin aus Schweden. „Hol mich hier raus“, soll sie gebeten haben. „Die Therapien sind so schrecklich.“

„Über ihr weiteres Schicksal haben wir immerhin einige Informationen“, sagt Boris Böhm, Leiter der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, einst eine der sechs großen NS-Krankenmordanstalten. „Sie blieb in Behandlung, zunächst in der Psychiatrischen und Nervenklinik am Stadtkrankenhaus Löbtauer Straße.“ Deren Direktor beantragte die Zwangssterilisation, wie es das bereits 1933 von den Nationalsozialisten erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorschrieb. Die Anordnung vom Erbgesundheitsgericht erging am 19. Juli 1939, als Frau Schmits schon im Sanatorium Hartheck bei Leipzig war.

Das Drama nahm seinen tödlichen Lauf. Am 1. September überantwortete Hitlers „Euthanasiebefehl“ unheilbar Kranke dem „Gnadentod“. Eine Meldepflicht wurde eingeführt, auch für „Geisteskranke“ in Anstalten und Heimen. Zwei Monate später drängte Herbert Schmits das Dresdner Gesundheitsamt, man möge seine frühere und jetzt als schizophren geltende Gattin dauerhaft einweisen in eine Landesanstalt, da diese billiger seien. Was das für Margareta bedeuten und was mit ihr und den anderen Kranken geschehen würde; es ist ungewiss, ob Herbert Schmits davon wusste. Dass die gebürtige Schwedin nur wegen der drei Ehejahre mit ihm Deutsche geworden war und allein deshalb der „Euthanasiebefehl“ nun auch sie betraf, dürfte ihm indes bewusst gewesen sein.

Tatsächlich wurde Margareta Schmits Anfang 1940 von Hartheck in die Landesanstalt Arnsdorf verlegt, eine Art „Sammelstelle“, von der aus man Patienten auf diverse Tötungsanstalten verteilte. Ihre Krankenakte vermerkt: „Schmits, Margareta Beate, geb. Egerström“ und „Tochter: Ingrid Sch., geb. 19.9.1930, wohnh. b. Vater“. Am 23. April 1941 kam sie auf ihren letzten Transport Richtung „Wiesengrund Sud-G“.

Boris Böhm forscht im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit der Gedenkstätte Hartheim in Österreich sowie dem Institut für Zeitgeschichte in Prag auch über die Rolle der sudetendeutschen Gau-Anstalten während der „Medikamenten-Euthanasie“. Insgesamt 5 500 Wiesengrunder Patienten kamen zwischen 1939 und 1945 ums Leben. Einer davon war Margareta Schmits. „Die enorm hohe Sterblichkeit resultiert offenbar auf deutlicher Mangelversorgung, viele ließ man absichtlich verhungern. Es wurden aber auch zahllose Patienten mit Medikamenten getötet“, sagt Böhm. „Das zeigt sich auch am Schicksal der 476 Patienten aus Arnsdorf, die mit Frau Schmits nach Wiesengrund kamen. Nur ganz wenige haben überlebt.“

Ihre Tochter erfuhr vom Vater nur, dass die Mutter nicht mehr lebte. „Sie ist ja krank gewesen, und Kranke sterben eben manchmal. Für mich war das sehr traurig. Es schien mir aber nichts Ungewöhnliches zu sein“, erinnert sich Ingrid Struckmann. „Noch als mein Mann mich lange nach dem Krieg fragte, was denn mit Mutter geschehen sei, sagte ich nur: ,Sie ist gestorben, als ich sieben war.‘“ Tatsächlich war sie sieben, als sie ihre Mutter zum letzten Mal sah. Als man Margareta Schmits umbrachte, war Ingrid schon elf.

Erst in den Sechzigern wollte sich Frau Struckmann mit ihrer Unkenntnis selbst nicht mehr zufriedengeben. Zu viel war inzwischen bekannt geworden über die „Euthanasie“-Morde. Sie stellte Strafanzeige wegen Mordes gegen unbekannt. Sogar die tschechische Staatssicherheit nahm Ermittlungen auf. Die wurden zwar 1968 eingestellt, aber nur vorläufig, und hinterließen umfangreiches Aktenmaterial.

Darauf stieß vor einigen Jahren Michal Simunek vom Prager Institut für Zeitgeschichte. „Ohne die Anzeige von Frau Struckmann wäre das Schicksal ihrer Mutter hier unbekannt geblieben“, so der Historiker. „Stattdessen wurde es zum Präzedenzfall für unsere Forschungen zur Euthanasie im früheren Sudetengau.“ Simunek informierte seinen Kollegen Boris Böhm. Der fuhr nach Dobrány, um den früheren Anstaltsfriedhof zu suchen, und entdeckte ihn schließlich. Daraufhin nahm Michal Simunek Kontakt auf mit den Hinterbliebenen von Margareta Schmits in Hamburg.

Einige Zeit später standen sie vor dem schmiedeeisernen Tor und schauten auf die Brache, Michal Simunek, Ingrid Struckmanns Tochter und Schwiegersohn, ihre Enkelin, und sie selbst. „Ich war erleichtert. „Endlich konnte ich sehen, wo meine Mutter wohl hingekommen ist. Obwohl so eine Brache in Tschechien natürlich schon etwas anderes ist als unser Familiengrab in Hamburg, in dem auch meine anderen Angehörigen liegen.“

Auf dem Standesamt von Dobrány durften sie das Totenregister einsehen – und fanden sie: Margareta Schmits, geboren am 1. 4. 1902, gestorben am 31. 8. 1941 in Wiesengrund. An „Lungenentzündung“. Einer der üblichen offiziellen NS-Euphemismen für „ermordet“. Die Spalte über den Begräbnisort gibt ein weiteres Rätsel auf: Zwar steht dort „Anstaltsfriedhof“, aber das Wort wurde wieder durchgestrichen. „Vielleicht können wir über Umwege doch noch herausfinden, ob Margareta Schmits wirklich dort begraben wurde oder anderswo“, sagt Michal Simunek. „Nur – das wird schwierig und kann lange dauern.“

Zumindest hat Margareta Schmits jetzt schon Eingang gefunden in ein Sächsisches Gedenkbuch-Projekt. „Die meisten Menschen wissen ja nur vom ungleich bekannteren Gas-Massenmord an Kranken, von der sogenannten Euthanasie-Aktion T4 in den Jahren 1940 und 1941“, sagt Boris Böhm. „Die ,Medikamenten-Euthanasie‘ der Nationalsozialisten an Kindern, Psychiatriepatienten, geistig Behinderten, Pflege- und Altersheimbewohnern ist dagegen weniger bekannt. Eben deshalb wollen wir mit unserem Gedenkbuch gezielt an diese Opfer erinnern.“

Dass am verlassenen Friedhof bei Dobrány irgendwann einmal ein paar Worte an ihre Mutter und die anderen Toten von Wiesengrund erinnern; Ingrid Struckmann wird weiter drauf hoffen. Immerhin besteht die Erinnerung an Margareta Schmits nicht allein aus Gedanken. „In Schweden, auf dem Familiengrundstück meiner Mutter, steht ein Gedenkstein an sie. Und Herr Simunek hat uns ein paar Steine vom Friedhof geschickt“, sagt sie. Dann lächeln auch ihre Augen wieder mit: „Einer davon liegt jetzt auf dem Gedenkstein in Schweden.“

Das ist mehr, als den meisten Hinterbliebenen von Opfern des NS-Krankenmords geblieben ist. Doch da wäre noch etwas. Genauer: noch jemand. Ihre Enkelin. Sie heißt Margaretha. „Ich glaube fest daran, dass etwas von unseren Toten in den Nachkommen weiterlebt“, sagt Ingrid Struckmann. Dass sie damit recht haben dürfte, man kann es sehen: Nicht nur in ihrem Gesicht, auch in den Zügen der 20-jährigen Margaretha lebt mehr weiter als eine nur ferne Erinnerung an deren Urgroßmutter Margareta Schmits.