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Als die ARD nach Riesa kam

Weil Fernseh-Korrespondent Lothar Loewe 1976 über die Ausreisewelle an der Elbe berichtet, muss er die DDR verlassen.

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Von Jens Ostrowski

Am 11. September 1976 ist ARD-Korrespondent Lothar Loewe mit einem Kamerateam von Ost-Berlin unterwegs nach Riesa. Der Westjournalist ist aufgrund seiner DDR-kritischen Berichterstattung der Stasi ein Dorn im Auge. „Ich hätte mich damals nicht gewundert, wenn sich plötzlich aus einer Seitenstraße irgendein Betonmischer vor unseren Wagen geschoben und das ’Problem Loewe‘ auf diese Art gelöst hätte“, erinnert sich der Journalist später.

Lothar Loewe berichtet am 11. September 1976 vor dem Haus Schweriner Straße 26 über die Riesaer Petition. Dass das ARD-Team das in Stein geschlagene Zitat auf der Thälmann-Straße gefilmt hat, wertete die Stasi als Aufwieglung der Bevölkerung. Quelle: ARD/
Lothar Loewe berichtet am 11. September 1976 vor dem Haus Schweriner Straße 26 über die Riesaer Petition. Dass das ARD-Team das in Stein geschlagene Zitat auf der Thälmann-Straße gefilmt hat, wertete die Stasi als Aufwieglung der Bevölkerung. Quelle: ARD/

Seit 1974 berichtet Loewe auf Basis des deutsch-deutschen Grundlagenvertrags vom 22. Dezember 1972 aus der DDR. Weil er sich besonders für ein Ende der Gewaltanwendung gegen Menschen an der Grenze, aber auch innerhalb des Landes einsetzt, charakterisiert ihn die Stasi als „glühenden DDR-Feind“. An diesem Tag will er mit seinem Kamerateam über die Ausreiseantragssteller der Riesaer Petition berichten. 79 Menschen rund um den inhaftierten Mediziner Dr. Karl-Heinz Nitschke kämpfen gemeinsam für die Einhaltung der Menschenrechte. „Eine gemeinsame Petition an die Staatsmacht – das hatte es vorher noch nicht gegeben“, schreibt Loewe später.

Schon einige Tage zuvor hatte er Nitschkes Ehefrau Dagmar und zwei andere Petitionäre besucht, um mit ihnen Interviews für seinen Bericht abzustimmen. Loewe plant, die vielfältigen Hintergründe der Unterzeichner zu zeigen. Auch Siegfried Hetmanczyk, dessen Familie darunter zu leiden hat, Zeugen Jehovas zu sein, will vor der Kamera sprechen. Doch dazu kommt es nicht. Ein Spitzel aus der Gruppe verrät das Vorhaben.

Wie ernst die Staatssicherheit Loewes Besuch in Riesa nimmt, zeigt eine entsprechende Meldung der Bezirksverwaltung Dresden, die noch am gleichen Tag an Minister Erich Mielke übermittelt wird. „Loewe beabsichtigt, den Fall Dr. Nitschke voll an die Öffentlichkeit zu bringen. Das Ziel besteht darin, die bereits laufenden Hetzkampagnen weiter anzuheizen und zu eskalieren“, heißt es in den Stasi-Akten. Stasi-Minister Mielke persönlich legt das weitere Vorgehen durch seine Abteilungen fest.

Schon am nächsten Morgen um 8 Uhr wird Dagmar Nitschke abgeholt und fünf Stunden lang zu den geplanten Dreharbeiten verhört. „Mir wurde gedroht, dass ich an der Grenze der Legalität stünde, und wenn das Interview gegen den Staat gerichtet sei, würde ich verhaftet. Man wollte mich erpressen und erzwingen, dass ich auf keinen Fall aussage“, berichtet sie später an ihre Familie. Auch die anderen Petitionäre werden bedrängt. Die Stasi will unter allen Umständen verhindern, dass die Betroffenen vor der Kamera Statements abgeben – und stoßen doch auf den eisernen Willen der drei Riesaer. „Sie waren nicht dazu zu bewegen, freiwillig von der Teilnahme an dem beabsichtigten Interview Abstand zu nehmen, und erklärten, alle sich daraus ergebenden Konsequenzen tragen zu wollen“, resignieren die Spitzel.

Auch Lothar Loewe wird unter Druck gesetzt. Ihm werden die Interviews verboten, weil die Personen als Zeugen in das Strafverfahren Nitschke verwickelt seien. Die geplanten Interviews stellten daher einen Verstoß gegen die Strafprozessordnung der DDR dar. Loewe wird der Zeugenbeeinflussung und der Behinderung von staatlichen Untersuchungen bezichtigt. „Wir waren uns alle darüber im Klaren, dass das DDR-Außenministerium hier den ersten massiven Versuch unternahm, den bisher ungehinderten Kontakt zwischen den Korrespondenten der Bundesrepublik und DDR-Bürgern zu unterbrechen“, schreibt Loewe später. Der Pressechef der bundesdeutschen Vertretung in Ost-Berlin, Johannes Rieger, warnt daraufhin das DDR-Außenministerium davor, die Arbeit der Journalisten zu behindern. Und doch erreicht die Stasi teilweise ihr Ziel. Lothar Loewe überdenkt seine Berichterstattung über die Riesaer nochmals sorgfältig. „Wir wollten keinem der Bürgerrechtler schaden, ihre Sicherheit ging allem anderen vor.“ Schließlich fassen er und sein Team einen Entschluss: keine Fernsehinterviews, wohl aber eine Reportage über die Bürgerrechtler von Riesa.

Die Beobachtungsintensität vor dem Nitschke-Haus nimmt zu, seitdem die Stasi weiß, dass die ARD kommt. Als die Journalisten in der Schweriner Straße vor dem Haus von Dr. Nitschke stoppen, erwarten sie bereits 13 Stasi-Männer mit Sprechfunkgeräten, die sie in kleinen Taschen tragen. „Da sonst keine Passanten zu sehen waren, wirkte dieses Aufgebot der Sicherheitskräfte bedrohlich.“, schreibt Loewe und rät seinem Team: „Nur nicht die Nerven verlieren.“

Zu den Spitzeln an diesem Tag gehört auch ein direkter Nachbar der Nitschkes, der nur einen Eingang neben ihnen in der Schweriner Straße 24 wohnt und auch sonst auf die Familie angesetzt ist. Er teilt akribisch mit, was er sieht, gibt detaillierte Personenbeschreibungen der Journalisten durch – und übermittelt der Stasi die Namen aller Personen, die sich mit Loewe unterhalten. Kaum aber steht der Beginn der Dreharbeiten kurz bevor, da nehmen die Spitzel hinter geparkten Autos Deckung. Ein Mitarbeiter des MfS flüchtet hinter einen Busch, als sich ihm ein Reporter mit der Kamera nähert.

Immer mehr Menschen, darunter auch viele Unterzeichner der Petition, kommen nun auf die Straße. Mit dem verzweifelten Mut von Leuten, die nichts mehr zu verlieren haben, bieten sie den Journalisten an, vor der Kamera ihre Erfahrungen zu schildern – trotz der anwesenden Stasi-Mitarbeiter, die über Richtmikrofone die Gespräche belauschen. Und je mehr sie berichteten, desto härter und verbitterter wurden ihre Stimmen. Sie erzählten von Schikanen, Willkür und Unverständnis der Behörden. Schimpfworte ertönten, einigen standen die Tränen in den Augen. Was blieb mir aber anderes übrig als der Rat, Ruhe zu bewahren und nicht die Nerven zu verlieren?“

Beifall für die Petitionäre

Zu diesem Zeitpunkt erreicht auch Dieter Teske, Nitschkes direkter Nachbar, den Ort der Dreharbeiten. Der Bedienstete des Strafvollzugs an der Strehlaer Straße kommt von der Arbeit. „Ich war von dem Rummel völlig überrascht“, erinnert er sich heute. Damals gerät er ins Blickfeld der ARD-Kameras. Allein der Fakt, dass er später in dem Film kurz zu sehen ist, beschert ihm Ärger. Sein Vorgesetzter lädt Teske später vor. Er solle erklären, weshalb er sich filmen ließ – und vor allem, ob er etwas mit Nitschkes Petition zu tun habe.

Zwar können Lothar Loewe und sein Team an diesem Tag ihre Reportage über die Riesaer Petition störungsfrei zu Ende drehen – und doch wird der Journalist die Konsequenzen später noch zu spüren bekommen.

Wenige Tage später sitzen nicht nur die Petitionäre gebannt vor dem Fernseher, als der Sender Freies Berlin Loewes Bericht ausstrahlt. Auch andere Bürger schauen interessiert zu. „Durch Loewe haben viele Menschen ja überhaupt mitbekommen, dass es unsere Bewegung gibt. Und viele haben unterm Tisch Beifall geklatscht“, erinnert sich der Petitionär Heinz-Dieter Grau.

Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der Stasi bezichtigt Loewe in einem Bericht vom 5. Oktober, er habe in Riesa durch eine geschickte Interviewführung versucht, weitere DDR-Bürger anzusprechen, ideologisch zu beeinflussen und direkt zum organisierten gemeinsamen Handeln aufzurufen. Wörtlich: „Die Berichterstattung Loewes über die DDR ist gekennzeichnet durch Entstellungen, Lügen, Hetze und Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Letzteres kam besonders deutlich in seinem Interview in Riesa zum Ausdruck.“

Auch die Riesa-Berichterstattung ist Grund dafür, dass wenige Monate später folgt, was schon anderen kritischen Westkorrespondenten widerfahren ist. Loewe wird ausgewiesen, muss die DDR innerhalb von 48 Stunden verlassen. Die Staatsführung wirft ihm die „gröbste Diffamierung des Volkes und der Regierung, grobe Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ sowie „vorsätzliche und böswillige Verletzung der Rechtsordnung“ vor.

Den nächsten Teil der Serie „Die Stasi vor unserer Tür“ lesen Sie in unserer Ausgabe am Montag.