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Abschied von Reichenbach

Die letzte Flüchtlingsfamilie verlässt die Stadt. Der Landkreis hat die Wohnungen für Asylfamilien gekündigt.

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© Constanze Junghanß

Von Constanze Junghanß

Reichenbach. Die letzte Asylfamilie verlässt Reichenbach. Ab dem 1. August hat der Landkreis Görlitz in der Stadt keine Wohnungen für Asylsuchende mehr in seinem Bestand. Das teilt Marina Michel von der Pressestelle des Kreises auf Nachfrage der SZ mit. Familie Ali geht freiwillig. Sie hätten bleiben können. So richtig verstehen den Wegzug nicht alle ehrenamtlichen Helfer, die sich in der Zeit der dezentralen Unterbringung um die Asylfamilien – rund 60 Menschen lebten anfangs im Ort – gekümmert hatten. Manche sind traurig, eine Frau wenig verständnisvoll. Das Wort „Undankbarkeit“ fällt. Warum sie nicht bleiben wollen, darauf kann sich niemand so richtig einen Reim machen.

Die drei Kinder fanden viele Freunde, im Kindergarten ebenso wie in der Grundschule. Über den Wegzug scheinen sie nicht besonders glücklich. Die neunjährige Lama erzählt, sie habe ihre „alte Sprache“ mittlerweile fast vergessen. „Ich verstehe arabische Wörter zwar noch. Sprechen kann ich sie nicht mehr“, sagt das Mädchen. Vater Mahmoud wird seinen Deutschkurs in Görlitz nicht in der Region beenden, obwohl er Arbeit im gastronomischen Bereich in der Neißestadt in Aussicht hatte. Im kommenden Monat startet der Umzug ins Leipziger Gebiet. Auch der Landkreis machte die Erfahrung, dass „die anerkannten Familien mehrheitlich in größere Ballungszentren wie Leipzig und Dresden ziehen wollten“, so Marina Michel. Über die Gründe sei nichts bekannt.

Mahoud Ali versucht eine Erklärung, die lang ist und nimmt dazu Kugelschreiber und Stift in die Hand. Seine Heimat Syrien zeichnet der 32-Jährige auf ein Blatt Papier. Betont dabei, dass die Familie kurdisch ist und aus der nordöstlichen Kleinstadt Al Malikiyah stammt. Dort setzt er einen Punkt. Die Grenze zur Türkei und dem Irak befindet sich gleich neben dem Heimatort. „Anfangs hatten wir keine Angst“, sagt der Familienvater. Dann gab es die ersten verletzten Verwandten durch den Krieg. Doch am Schlimmsten: Der IS stand plötzlich nur drei Kilometer von Al Malikiyah entfernt und damit die Angst vor der Tür der Familie. Ali zeichnet wieder einen Punkt um zu zeigen, wo das etwa war. „Der IS hätte uns als kurdische Syrer getötet. Wir fürchteten um unser Leben.“

Zu Fuß machten sich Mahmoud und seine Frau Kamria gemeinsam mit ihren drei kleinen Töchtern auf den Weg Richtung Türkei, von dort aus nach Bulgarien. Schließlich landeten sie in einem tschechischen Gefängnis. Zwei Monate war die Familie mit den Kindern eingesperrt, sagt Mahmoud Ali. Nudeln ohne alles gab es jeden Tag, erinnert sich die sieben Jahre alte Neven. Und dreckig und laut sei es gewesen. Sie lächelt und neigt den Kopf. Denn dann kamen diese zwei Frauen mit einem roten Kreuz an der Kleidung und brachten sie zu einem Zug, der nach Dresden ins Aufnahmelager fuhr. Das war der 25. August 2015. Später kamen sie ins Asylheim Niesky.

Ein Jahr und sieben Monate lebt Familie Ali nun in Reichenbach in einer Wohnung. An Kamria gingen die Erlebnisse in Syrien und die Flucht nicht spurlos vorbei. Die 29-jährige Mutter der Mädchen erkrankte in Reichenbach plötzlich schwer, sie spricht kaum noch und die großen braunen Augen blicken suchend. Das war am Anfang noch anders. Kamria wollte eine Ausbildung im Pflegebereich in Reichenbach machen. Im Moment lassen das ihre seelischen Wunden nicht zu. Die Kinder hätten zum Glück vieles vergessen können, meint der Vater. Bei Leipzig würden Verwandte seiner Frau wohnen. Mahmoud Ali will seinen Deutschkurs dann rund 200 Kilometer entfernt fortsetzen. Und am liebsten in seinem erlernten Beruf als Verkäufer arbeiten. Wie seine Chancen da stehen, weiß er noch nicht.

Mit Alis ziehen die vorerst letzten Syrer aus dem Reichenbacher und Markersdorfer Gebiet weg. In der Gemeinschaftsunterkunft an der B 6 – einer Bungalowsiedlung – leben im Moment 52 Menschen. Syrer sind nicht dabei. Die meisten kommen aus Indien und Lybien, jeweils zwölf Personen. Aus dem Libanon sind es sechs Asylbewerber, aus Vietnam fünf Menschen und aus Russland vier. Ein Bewohner ist staatenlos, bei einem weiteren die Herkunft ungeklärt. Jeweils ein oder zwei Personen kommen aus Ländern wie beispielsweise Venezuela oder der Türkei.

Wie lange sie in der Siedlung wohnen bleiben, steht nicht fest. Der Landkreis begründet das damit, dass die Asylverfahren einerseits unterschiedlich lang andauern und andererseits abgelehnte Asylbewerber weiterhin in Zuständigkeit der Ausländerbehörde des Landkreises Görlitz verbleiben. Immer noch werden neue Asylsuchende nach Markersdorf zugewiesen. Wie lange die Bungalowsiedlung für die Unterbringung genutzt wird, dafür gibt es aktuell kein konkretes Zeitfenster.