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Zurück in die Zukunft: Vor 25 Jahren wurde Karl-Marx-Stadt wieder zu Chemnitz

Zwei Namen, eine Stadt: Viele Chemnitzer kamen als Karl-Marx-Städter zur Welt. Vor 25 Jahren erhielt die Stadt ihren ursprünglichen Namen zurück. Der Philosoph erlebt nun als Karl Chemnitz eine Renaissance.

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© dpa

Jörg Schurig

Chemnitz. Anfang 1990 tauchte in der ersten „Westausgabe“ des Satiremagazins „Eulenspiegel“ eine Karikatur von Roland Beier auf: Ein ratlos wirkender Karl Marx mit Händen in den Hosentaschen bringt etwas kleinlaut eine Entschuldigung vor: „Tut mir leid Jungs! War halt nur so ’ne Idee ...“.

Die Zeichnung machte schnell die Runde. Viele DDR-Bürger konnten dem Scheitern des in der DDR praktizierten Marxismus bei allen Problemen durchaus eine humorvolle Note abgewinnen. Andere dagegen mutierten rasch zu Bilderstürmern, wollten am liebsten alle in Beton oder Bronze gegossenen Altlasten des Arbeiter-und-Bauern-Staates abreißen.

In Karl-Marx-Stadt wurde vehement eine Namenswende eingefordert. Im Mai 1953 hatte man Chemnitz den Namen des Philosophen und Mitbegründer des Kommunismus‘ verpasst, ohne die Bürger zu fragen. Chemnitz war bei der Namensweihe eigentlich nur dritte Wahl - hinter Eisenhüttenstadt und Leipzig, erinnert sich der sächsische Linke-Politiker Klaus Bartl.

Da aber Stalin im März 1953 starb, wurde Eisenhüttenstadt kurzerhand zur Stalinstadt. Auf eine Umbenennung von Leipzig verzichtete man, weil die Metropole als internationaler Messestandort seit Jahrhunderten Traditionen besaß. Und irgendwie passte Marx ja auch zum industriell geprägten Chemnitz, obwohl er das „Sächsische Manchester“ selbst nie betreten hatte.

Bewusstsein für Entwicklungen

Vor allem ältere Bürger nannten Karl-Marx-Stadt freilich weiter Chemnitz. Als die Mauer fiel, wollte auch mancher Spätgeborene erst einmal lieber nichts mit Marx zu tun haben. Volkmar Zschocke, Fraktionschef der Grünen im sächsischen Landtag, ist gebürtiger Karl-Marx-Städter. Der 46-Jährige glaubt, dass die Zwangsumbenennung das städtische Bewusstsein negativ beeinflusste: „Denn eine Stadtgesellschaft lebt ja auch von ihren Geschichten, von den Orten und von Namen. Diese Geschichte darf nicht einfach abgeschnitten werden.“ Es gehe weniger um das Selbstwertgefühl als vielmehr um ein Bewusstsein für jahrhundertealte Entwicklungen.

Zschocke gehörte zu jenen, die schon im November 1989 die Initiative „Für Chemnitz“ unterstützten und Unterschriften sammelten. „Von so vielen Unterschriften - es waren weit über 40 000 - träumt heute jede Initiative“, sagt er rückblickend. Auch mit Flugblättern wurde für das Anliegen geworben.

Bis zum 22. April 1990 hatten die Einwohner Zeit, auf einer Stimmkarte für Chemnitz oder Karl-Marx-Stadt zu votieren. Drei Viertel der Wahlberechtigten beteiligten sich. Das Ergebnis fiel eindeutig aus und schaffte es sogar in die Abendnachrichten im Westen: Gut 76 Prozent der Teilnehmer an der Befragung hatten für Chemnitz gestimmt.

Manchen wollten Umbenennung nicht

Klaus Bartl, vormals Mitglied der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und heute einer der bekanntesten Linke-Politiker in Sachsen, hat den Wunsch nach Umbenennung aus einer anderen Perspektive erlebt. Er war dafür, den Namen Karl-Marx-Stadt beizubehalten: „Wir haben versucht, uns dagegen zu wehren. Da war aber nichts zu machen.“

Auch das Argument, dass Karl-Marx-Stadt inzwischen international ein Begriff war, habe nicht überzeugt. „Wir haben das damals als Niederlage empfunden, aber unseren Frieden damit geschlossen.“ Die Linken gründeten später einen Verein zur Förderung der politischen Kultur. Er heißt Karl Chemnitz, für manche nun der inoffizielle Stadtname.

Nach Bartls Erinnerung wollten damals einige am liebsten auch das monumentale Denkmal für den Denker schleifen. Der gut sieben Meter hohe und 40 Tonnen schwere Bronzekopf - geschaffen vom russischen Bildhauer Lew Kerbel - war freilich nicht ohne weiteres aus dem Stadtbild zu entfernen.

Bartl zufolge hat die hinter dem Denkmal befindliche Fassade mit dem in vier Sprachen eingemeißelten Zitat „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Marx den Kopf gerettet. Denn ein Abriss des Schriftzuges hätte wohl die gesamte Statik des Gebäudes gefährdet und damit für unübersehbare Kosten gesorgt. Nur das unweit des Denkmals eingerichtete Museum wurde dichtgemacht.

Rückbesinnung auf Marx

Die Zeiten, wo viele Chemnitzer Marx mit Argwohn betrachteten, sind lange vorbei. Bartl spricht von einer Rückbesinnung. „Die Initiative kämpfte damals ja nicht gegen Karl Marx oder sein Werk. Er ist auch keine Altlast“, meint Zschocke. Das Monument gehöre zur Stadt, sei Teil ihrer Geschichte.

Die Stadt selbst warb später mit dem Spruch „Chemnitz, Stadt mit Köpfchen“ für sich. Heute ist der „Nischel“, wie die Chemnitzer das Denkmal nennen, nicht nur ein beliebtes Fotomotiv, sondern auch ein Treffpunkt Jugendlicher. Zahlreiche Reiseandenken sorgen dafür, dass der Marx-Kopf inzwischen zum Exportschlager avancierte. Viele Touristen nehmen sich einen Mini-“Nischel“ mit.

Und noch etwas steht fest: Die originalen Karl-Marx-Städter sterben irgendwann aus. Nach Angaben der Verwaltung sind derzeit noch 62 200 Personen in Chemnitz gemeldet, die in Karl-Marx-Stadt zur Welt kamen und das auch in ihrem Personaldokumenten stehen haben: „Karl-Marx- Stadt jetzt Chemnitz“ lautet der korrekte Eintrag. Bartl denkt beim Blick in die Zukunft auch an das Jahr 2018. Dann hat Karl Marx seinen 200. Geburtstag. Dass aus diesem Anlass eine neuerliche Rückbenennung von Chemnitz mehrheitsfähig wäre, glaubt aber selbst der Linke nicht. (dpa)