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Wo der Faktor Zeit zählt

Auch in Neustadt/Sachsen gingen nach 1990 viele Jobs verloren. Inzwischen hat sich die Stadt wieder aufgerappelt. Bürgermeister Manfred Elsner sagt, warum das möglich war.

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© kairospress

Von Jörg Marschner (Text) und Thomas Kretschel (Fotos)

Das über 300 Jahre alte Rathaus von Neustadt in Sachsen steht nicht am Markt, sondern mitten auf ihm. Hoch ragt sein schlanker, kupferbeschlagener Turm in den Himmel. Ist das Wetter nicht gar zu mies, treffen sich neben dem Rathaus bei den Bänken an der Viehmarkt-Bronzeplastik einige ältere Herren zum Schwatz – oft schon am Vormittag. An diesem Tag sind es Jochen Fischer, Wolfgang Müller und Richard Wozniak, 81, 77 und 62 Jahre alt. Drei Männer, deren Leben mit Fortschritt zu tun hat, wie bei so vielen in dieser Stadt. Zu DDR-Zeiten haben die drei beim großen Landmaschinenkombinat „Fortschritt“ gearbeitet. Das gibt es längst nicht mehr. Aber früher gab es über 6.000 Leuten in der Region Lohn und Brot. Die alten Neustädter reden noch oft von diesen Zeiten.

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Auch der Mann, der unweit der Herrenrunde im ersten Stock des Rathauses die Geschicke von Neustadt lenkt. Sein Zimmer ist einfach eingerichtet. Der Mann heißt Manfred Elsner und war auch mal bei Fortschritt. Er trägt meist dunkle Anzüge, helles Hemd und passende Krawatte, er hat grauweißes Haar und einen gepflegten Bart. Als Maschinenbauingenieur war er bei „Fortschritt“ sozusagen die rechte Hand des technischen Direktors. Höher konnte er damals nicht aufsteigen, weil er nicht Mitglied der SED war. „Ich bin schon seit meinem 18. Lebensjahr Liberaler“, sagt Elsner, was heißt, dass er mit 18 in die Liberaldemokratische Partei Deutschlands eingetreten war, eine der vier Blockparteien, die mit der SED zusammenarbeiteten. Sie waren sozusagen das kleinere Übel, und im Sommer 1990 kein Grund, den damals 37-jährigen Elsner nicht zum Bürgermeister zu wählen. Das war noch in Langburkersdorf, einem Nachbarort von Neustadt, wo er am Runden Tisch mit seinen Vorschlägen aufgefallen war. Langburkersdorf war seinerzeit weithin bekannt durch sein Dachziegelwerk mit 500 Beschäftigten, es ist ebenfalls längst Geschichte. „Ich ließ mich zur Wahl überreden“, sagt Elsner rückblickend. 2006 dann trat er in Neustadt gegen den Amtsinhaber von der CDU an und gewann überraschend.

Nun arbeitet Manfred Elsner schon 23 Jahre daran, die binnen weniger Jahre verloren gegangenen über 6.000 Arbeitsplätzen wenigstens teilweise zu ersetzen. Wo das nicht möglich ist, will er den Verlust wenigstens verkraftbar machen. Eine nahezu unlösbare Aufgabe. Aber in jüngster Zeit geschah doch Bemerkenswertes.

Der Bürgermeister selbst meint dazu halb untertreibend, halb zurückhaltend: „Wir können nicht unzufrieden sein.“ Und die Neustädter scheinen diese Position durchaus zu teilen. Im vergangenen Oktober wählten sie FDP-Mann Elsner mit über 90 Prozent der Stimmen für weitere sieben Jahre zum Bürgermeister. Das spricht für sich, auch wenn nicht einmal jeder Zweite zur Wahl ging. Was war geschehen?

Auf das Gold in den Gesteinen des nahen Hohwaldes konnte Elsner nicht setzen. Freiberger Bergleute hatten es entdeckt und Nuwenstadt gegründet, das 1333 erstmals urkundlich erwähnt wurde. Zwar spürte vor Jahren ein Geologe feinste Teilchen des Edelmetalls in rund 40 Flüssen und Bächlein im Gebiet zwischen Lausitzer Bergland und Elbsandsteingebirge auf, aber nutzen kann man diese Edelmetallspuren nicht. Elsner und seine Mannschaft im Rathaus wählten eine andere Strategie. Sie wollen besser sein als andere Kommunen, bieten vor allem mehr Beratung und Service für Investoren und andere Interessenten. Und sie handeln schneller als andere. Geht nicht, gibt’s nicht!

So lief das auch im Januar 2010, als die Veritas AG der Stadt einen Plan vorlegte. Das weltweit operierende Familienunternehmen aus Hessen, Zulieferer für die Autobranche, hatte kurz zuvor das Ostsächsische Gummiwerk im Neustädter Ortsteil Polenz übernommen und dachte an eine Erweiterung. Die Firma forderte zweierlei: eine große Fläche und ein Wahnsinnstempo. Die Veritas-Leute sagten: Wir investieren nur, wenn Neustadt garantiert, dass ab August 2010 gebaut werden und im Mai 2011 die Produktion anlaufen kann.

Die Stadt sagte das zu, obwohl auf der vorgesehenen Fläche noch die Ruinen des Dachziegelwerkes auf ihren Abriss warteten. Das Risiko war groß, aber Neustadt hielt Wort. Schon im April 2011 nahmen die ersten Spritzgießautomaten die Arbeit auf. „Die Kommune hat da wirklich Tolles geleistet“, sagt Stephan Fuß heute, der Werkleiter der Veritas Sachsen GmbH. Die Firma musste so sehr aufs Tempo drücken, weil in Neustadt Baugruppen für neue Autoreihen hergestellt werden. „Da haben wir besonders wenig Zeit.“ Inzwischen stehen vier Hallen, 140 Leute arbeiten dort, Tendenz stark steigend. Veritas hat sich im Gewerbegebiet bereits das Vorkaufsrecht für eine weitere Fläche gesichert.

Ohne die vor gut drei Jahren vollendete Schnellstraße hätte Veritas in Neustadt wohl nicht investiert. Auf der neuen Straße sind selbst Lkw in 20 Minuten auf der Autobahn 4 bei Burkau und müssen sich nicht mehr durch das sieben Kilometer lange Berthelsdorf und das verwinkelte Bischofswerda quälen. Die Zahl der Laster mit Ziel Neustadt wächst. An die zwei Dutzend Lkws bringen allein jeden Werktag Rohstoffe zur Firma Gerodur. Weit mehr verlassen das Schweizer Unternehmen – vollgeladen mit Polyethylenrohren für die Gas- und Wasserversorgung.

Gerodur war der erste namhafte Investor in Neustadt. Das hat viel mit Jochen Henke zu tun. Als Geschäftsführer des einstigen VEB Formaplast Sohland bekam der gebürtige Oberlausitzer 1991 einen Anruf aus dem sächsischen Wirtschaftsministerium. Da seien drei Herren aus der Schweiz, die in Sachsen investieren wollten. Vielleicht wäre Sohland ja geeignet. Die drei Schweizer kamen, sahen sich um, äußerten sich lobend, sagten aber ab. Sie wollten lieber etwas Neues auf die Beine stellen. Nur wo?

Henke schlug Neustadt vor. „Da gab es bestens ausgebildetes Personal und in Neustadt und Langburkersdorf zwei fähige Bürgermeister mit Plänen für ein gemeinsames Gewerbegebiet“, erinnert er sich. Das überzeugte die Schweizer, und alles ging ruckzuck. Dezember 1991: Gründung von Gerodur Neustadt. Januar 1992: Planungsbeginn. April 1992: Grundsteinlegung für die erste Halle, ein Jahr später Produktionsaufnahme. Mit 30 Leuten begann das Unternehmen, inzwischen arbeiten knapp 200 Leute in drei Hallen. Für alle Fälle hat man noch fünf Hektar zugekauft. Bis 2012 wirkte Henke als Geschäftsführer, inzwischen, mit 67, ist er Berater der Firma.

So arbeitet sich das vom Untergang des „Fortschritt“-Kombinates gebeutelte Neustadt langsam wieder nach oben. „Wir haben inzwischen in Sachsens Regierung den Ruf, dass hier investierte Fördermittel gut ausgegeben sind“, sagt Bürgermeister Elsner. „Das spricht sich herum.“ Nur einmal gab es Negativ-Schlagzeilen mit einer geplatzten Neuansiedlung, und das ausgerechnet auf dem Gelände von „Fortschritt“. Dort war 1997 der international namhafte Landmaschinenhersteller Case eingezogen. Schon 2004 zog die Firma allerdings wieder aus. Da waren die ausgereichten Fördermittel futsch, was manchen Neustädter noch heute aufregt.

Zum Glück kam bereits im Jahr darauf ein neuer Investor und kaufte die Hallen zusammen mit 22 Hektar Land: die Firma Capron, eine Neugründung der Hymer-Group, eines namhaften Herstellers von Wohnmobilen. Capron steht heute für Caravanproduktion Neustadt. Jeden Mittwoch gibt es Führungen durch die 250 Meter lange Halle. Dort entstehen aus den von Fiat angelieferten nackten Fahrgestellen binnen anderthalb Tagen komplette Wohnmobile.

Die Termine im ersten Halbjahr sind schon fast ausgebucht. 300 Mitarbeiter lassen derzeit pro Jahr 5.000 Fahrzeuge vom Typ „Sunligth“ und „,Corado“ aus der Halle rollen. Auch hier ist eine Erweiterung nicht ausgeschlossen. „Wir haben eine tolle Mannschaft, und Neustadt ist ein attraktiver Standort“, sagt Geschäftsführer Daniel Rogalski, 37, ein Görlitzer. Auch er lobt die Zusammenarbeit mit dem Bürgermeister. Capron wirbt mit Motiven der Sächsischen Schweiz und legt jedem Fahrzeug einen Imagefilm der Felsenwelt bei.

Mittlerweile füllen Dutzende Firmen die fünf Gewerbegebiete in Neustadt. Und es gibt nicht nur produzierendes Gewerbe. Hinzu kommt mit der Hohwaldklinik und dem Arbeiter-Samariter-Bund ein starker sozialer Sektor. Alles in allem bringt das derzeit an die 3.800 sozialversicherungspflichtige Jobs. Es wurden von Jahr zu Jahr mehr, aber es sind noch nicht genug. Ein Aufschwung, ja, aber noch kein Boom. Forschungs- und Entwicklungskapazitäten haben sich kaum niedergelassen. Und viele hätten gern ein Gymnasium in der Stadt, aber das bleibt wohl ein Traum.

Die Arbeitslosenquote ist auf etwa acht Prozent gesunken, sie liegt damit auf dem Niveau der 40 Kilometer entfernten Landeshauptstadt Dresden. Auf jedem der 13.000 Neustädter lasten derzeit lediglich 350 Euro Schulden, im Durchschnitt des Landkreises sind es an die 2.000 Euro je Einwohner. Natürlich zogen auch viele weg aus Neustadt. Aber die Abwanderung, die in den 90er-Jahren einem regelrechten Strom glich, versiegt langsam.

In der Tat scheinen die Neustädter zufrieden zu sein. 23 Einwohner hat der Reporter gefragt, nicht einer hat gemeckert. „Es gibt schlimmere Städte“, war da die negativste Bemerkung. Die meisten sagen Sätze wie „Hier kann man gut leben.“ Bäckermeister Gerhard Mikat aus Polenz hebt das kulturelle Angebot in der Neustadthalle hervor. „Da waren wir erst zum Neujahrskonzert.“ Elisabeth Schreck meint: „Ist doch schön hier, der große Stadtpark mit den Schwänen, kein Problem mit Kitaplätzen, viele Einkaufsmöglichkeiten.“ Ihr Mann Rico ergänzt lakonisch: „Kein Stau auf den Straßen. Und das schöne Erlebnisbad.“ Er meint die Mariba Freizeitwelt, die jährlich 180.000 Besucher anzieht und genauso wie die Neustadthalle ein städtisches Unternehmen ist.

Das Gold, das zu Neustadts Gründung führte, ist bis heute nicht vergessen. Margot und Herbert Pehse betreiben im nahen Berthelsdorf oberhalb ihres Gasthofes „Erbgericht“ die Gold- und Mineralienerlebnisstätte. Bergkristalle aus dem Hohwald und natürlich ein paar Goldkörnchen von den einstigen Goldfeldern sind da neben kostbaren Mineralien aus aller Welt zu bewundern. Wer sich rechtzeitig anmeldet, kann mit Mitgliedern des Bergbau-Traditionsvereins in wieder freigelegte Stollen klettern oder am Goldflüsschen die Waschschüssel schwenken.